I. Fleisch“ in der biblischen Anthropologie
Die hier vorgenommene Sammlung von „Einfällen“ zu einer „psychoanalytischen Carneologie“ sucht an ihrem Startpunkt orientierend zunächst nach einer gedanklichen Verwandtschaft mit der religiösen Anthropologie des Alten Testamentes und des Neuen Testaments bei Paulus. Dabei wird sich zeigen, dass nicht wenige der dort quasi seit Urzeiten bestehenden Vorstellungen durch eine psychoanalytisch inspirierte „Carneologie“ aufgegriffen und in einen zeitgemäßen Verständniszusammenhang eingeführt und durch weitere empirische Unterfütterung aus der psychotherapeutischen Behandlungspraxis sogar als zutreffend bestätigt werden können. Es wird um die Bedeutungen der hebräischen Wörter „bazar" (בָּשָׂר) = Fleisch, „näfäsh”(נֶפֶשׁ) = bedürftige Seele, „ruach”(רוּחַ) = göttlicher Hauch und ihrer griechischen Entsprechungen „sarx“ (σαρξ) = lebendes Fleisch, „pneuma“ (πνεύμα) = göttlicher Atem, „logos“ (λόγος) = sprechender Geist, „psyche“ (ψυχή) = irdische Seele mit „nous“ (νους) = Geist, „soma“ (σώμα) = Körper und „kardia“ (καρδία) sowie um den Begriff der Erlösung „soteria“ (σωτηρία) gehen. Auch auf das hebräische „leb”(לֵב) für „Herz“, speziell das „hörende leb“, das etwas anderes ist als griechisch „kardia“, wird kurz Bezug genommen.
Dazu sei angemerkt, dass es sich natürlich nicht um eine auch nur annähernd angemessene Behandlung des Themas handelt, sondern allein um ein erstes Aufsuchen von inhaltsverwandten möglichen Anknüpfungspunkten und Querverbindungen zu den in den vorangegangenen posts vorgestellten Erfahrungen und Überlegungen. Es geht allein um den Aufweis, dass die hier aus der aktuellen Behandlungsempirie aufgegriffenen Phänomene eine sehr starke Verwandtschaft mit der in den biblischen Texten verhandelten Anthropologie besitzen. Der Versuch eines solchen Aufweises ist kein Plädoyer für eine Restauration früherer Formen von Religiosität. Es geht vielmehr um eine Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen mit bestimmten, durch die von einer auf äußere Beobachtung fixierten Aufklärung diskriminierten und diskreditierten uralten Vorstellungen zur conditio humana. Vorstellungen von der allgemeinen inneren Erfahrung von sich und Welt eines mit Bewusstsein begabten, individuierten und inkarnierten Wesens, das als eine physiologische Frühgeburt auf die und später zur Welt kommt. Uralte Vorstellungen, die den signifikanten Kern menschlicher Wesensart sowohl in seiner Existenz als Einzelwesen wie auch als Kollektiv betreffen, der sich eben im bloß Beobachtbaren verbirgt und dadurch u.U. aber umso wirkmächtiger ist. In seiner besonderen Wesensart liegen seine einerseits grenzenlosen Möglichkeiten zugleich mit jenen Grenzen andererseits, die das ihm Unmögliche unerbittlich festlegen. Um diese beiden in einer „Kontrastharmonie“ (R. Otto)[1] vereinten Grundbestimmungen physiologischer Frühgeburtlichkeit zu wissen, sie weiter zu erforschen, sie anzuerkennen, sie einerseits ausschöpfen und andererseits bewältigen zu lernen, kann für das innere Gleichgewicht des Einzelnen und der menschlichen Gemeinschaften und Gesellschaften schließlich von überlebenswichtiger Bedeutung sein.
a) Fleisch und Gott: das individuierte Viele im Gegensatz zum ganzen Einen
Fleisch nun im Sinne von hebräisch בָּשָׂר (basar), oder griechisch übersetzt σαρξ (sarx), meint im Alten Testament allgemein alles tierisch Belebte und im Besonderen den Menschen vor allem hinsichtlich seiner äußeren Gestalt und die Menschheit als Ganze, kol basar, bisweilen einschließlich der Tierwelt. Im Faktum, im Fleische individuiert zu existieren, liegt die grundsätzliche Gleichheit aller Menschen: alle sind geschaffen von Gott, alle versehrbar und sterblich, alle miteinander verwandt als Kinder Adams, alle gegenüber Gott unvollkommen: ohnmächtig und abhängig. Auch gibt es einen möglichen, dabei nicht unbestrittenen Zusammenhang von basar (aramäisch bisra, syrisch bisra) mit akkadisch bisru „Kleinkind“ und punisch bsr „Kind“. Die im hier gewählten Kontext dem Fleisch zugeordnete und besonders betonte Bedürftigkeit findet im Hebräischen eher ihren Begriff in der נֶפֶשׁ (näfäsch), ursprünglich das Wort für Kehle, Schlund, Atmung, die mit bazar zusammengedacht werden muss. Die näfäsch vor allem „dürstet“, sie zeigt „Verlangen“, sie ist bestimmt durch ein Drängen nach dem Leben, durch das Begehren. Aber auch bazar selbst kann nach „Gott „schmachten“ und zu ihm jauchzen. Bazar und näfäsch bezeichnen dabei zwei sich überlappende Sichten auf den ganzen Menschen, sie sind nicht geschieden wie in der platonischen oder paulinischen Anthropologie, wo das eine die Essenz ist und das andere ein Grab. In heutigen Begriffen gesprochen meint Fleisch, erweitert um die Bedeutung von näfäsch, den Menschen als „Biologie“ und „Psychologie“, ohne diese Aspekte voneinander zu trennen. Die Verbindung und Einheit von basar und näfäsch, wie sie hier im Text als „Fleisch“ im gegenüber dem bloßen basar erweiterten Sinne bezeichnet wird, ist zudem dem deutschen Begriff des Leibes näher als dem des Körpers. Fleisch und Leib erfassen beide die durch den Menschen verkörperte, d.h. individuiert-inkarnierte Existenz in der Perspektive der inneren Erfahrung. Ihr Verhältnis untereinander wird im Verlaufe der weiteren Überlegungen genauer bestimmt werden.
Fleisch im biblischen Sinne bezeichnet zugleich die Geschöpfe einer Schöpfung, es steht also als etwas Abgeleitetes in einem Gegensatz zum Schöpfergott. Fleisch und Gott bilden einen kosmischen Ur-Dualismus. Das von Gott Geschöpfte ist das Fleisch, Schöpfung ist „Fleischmachung“, sie ist dabei zugleich auch „Fleischwerdung“, Inkarnation des Göttlichen selbst: ενσαρκώσεις (ensarkosis). Im Fleisch materialisiert sich etwas gegenüber Gott „Transzendentes“, in ihm nimmt das Göttliche menschliche und damit in einer grundsätzlich anderen „Ordnung des Geschiedenen“ Gestalt an. Wenn Gott seinen Geist, seine רוּחַ, ruach, allerdings aus dem Fleisch zurückzieht, muss dieses wieder zu Staub zerfallen. Die ruach geht in ihrer Bedeutung zusammen mit Wind, Brausen, Sturm Hauch und meint den Atem und den Geist, der aus Gott kommt. Ruach steht für den individuell-schöpferischen, intuitiven, begabten, inspirierten und weniger für den bedürftigen Aspekt des Menschen. In diesem Gegensatz zwischen Gott und Fleisch eignet letzterem trotz einer gewissen, aber nicht durchgängigen Verderbtheit, bspw. als das „hörende fleischerne Herz“ (leb(לֵב))[2] daher zunächst auch nichts absolut Schlechtes, sondern allem Leben kommt eben als „geschöpfliches“ Fleisch „von Natur aus“ immer auch etwas Göttliches zu, obwohl es in einem Gegensatz zu ihm steht als etwas wesensmäßig – weil vereinzelt – Schwaches und Unvollkommenes. Die Schwäche des Fleisches wird aber ursprünglich im Alten Testament als etwas im Leben Anzuerkennendes und nicht zu Verdammendes wie bei den Gnostikern oder, wie durch Paulus angeregt, gar als etwas durch seine mitunter blutige Kasteiung und Kreuzigung zu Überwindendes gesehen. Die Anerkennung der Schwäche ist vielmehr eine Bedingung zur Erfahrung Gottes im Vertrauen auf ihn. Hans Hinrich Wendt schreibt in seinem im 19. Jh. verfassten, grundlegenden Buch über „Fleisch und Geist“:
„Dem Lebensgeist in den Kreaturen wird im Alten Testament ein religiöser Werth beigelegt, was sich darin ausdrückt, dass dieser Geist unmittelbar von Gott herstammend und zu Gott zurückkehrend vorgestellt wird.“ [3]
בָּשָׂר oder σαρξ meinen alttestamentarisch also nicht einen Teil eines Kompositums Mensch, der im griechisch-hellenistischen Verständnis aus Leib und Seele zusammengesetzt gedacht wurde. Dies führte dort zur Bewertung von σώμα (soma) als σεμνά, sema im Sinne des Zeichens für das Grab der Seele. In diesem griechischen, von Paulus adaptierten Verständnis des Fleisches, entspricht σαρξ auch ὓλη (hyle): es ist zunächst gestaltlose und zu formende Masse in einem Gegensatz zu soma, dem gegliederten und geformten Körper. Sarx ist empfänglich für das Böse, es ist seine Eintrittspforte „in“ den Menschen. Es ist das befleckt Befleckende, die Substanz des Niedrigen, die durch Christi Leiden geläutert und zu ihrer endgültigen Überwindung an Kreuz geschlagen wurde. Soma als der im Gegensatz zu sarx geformte Leib, ist schließlich der Leib, der nach einer Läuterung als „entfleischter“, gereinigter, verklärter als Werkzeug der Verherrlichung Gottes dienen kann. Der Begriff Fleisch im alttestamentarischen Sinne enthält diese Unterscheidung nicht und also auch nicht den bei Marcion, den Manichäern und Gnostikern noch weiter zugespitzten Leib-Seele-Dualismus, wonach der Mensch sich zusammensetzt aus einer guten göttlichen Seele und dem schlechten und bösen Fleisch, so wie auch die ganze diesseitige Welt quasi „Fleisch“ ist, das Werk eines stümpernden Demiurgen, das unvollkommen und schlecht geblieben ist und in der man sich auf eine Welt dahinter auszurichten hat. Dort sind die Wesen soma, aber nicht länger sarx. Dies scheint seit der Verfassung der biblischen Texte bis heute ein grundlegender Menschheitstraum zu sein: soma sein ohne zugleich den Preis dafür zahlen zu müssen, auch sarx zu sein. Was meint: individuiert sein zu können, ohne zugleich an den Nöten der sie voraussetzenden Inkarnation leiden zu müssen. Darauf wird im Folgenden immer wieder zurückzukommen sein. Es scheint eine gewisse Versessenheit zu geben, die Formung des soma zu vervollkommnen und das Fleisch im Sinne von sarx als bloß hyle für immer zu „überwinden“. Der Gegensatz von „geformtem“ und „ungeformtem“ Fleisch ist uns bspw. in den vorangegangenen posts in Gestalt der so bezeichneten „carneologischen Regression“ bereits begegnet, die, so ließe es sich ausdrücken, durch die innere Erfahrung zunehmender „Formlosigkeit“ der eigenen Fleischlichkeit gekennzeichnet ist. Solche Regression indiziert ihr Einsetzen in einer wachsend überwältigenden inneren Erfahrung von hilflosem Elend, grenzenloser Ohnmacht und erbärmlicher Wert- und Würdelosigkeit. Dieser Komplex carneologischer Regression ist das eigentlich Abgewehrte, dem die Psychoanalyse in ihren Behandlungen stets begegnet. Eine quasi „natürliche“ Reaktion auf solche Zustände sind Härte und Verachtung, sowohl beim Betroffenen selbst wie auch durch seine menschliche Umgebung. Eine andere ist das Erbarmen.
b) Fleisch ist frei - Individuation durch Geburt ist ein „Anfangen“, was notwendig die Möglichkeit zum Bösen enthält
Das Fleisch des Neuen Testamentes allerdings ist frei. Und zwar in dem Sinne als es einen eigenen Willen besitzt und sich darum dem Willen Gottes widersetzen kann und dies auch tut, auch, weil es es nicht nicht tun kann. Es ist das „Gesetz des Fleisches“. Es muss mithin aufsässig, verderbt und sündig werden, denn Fleisch ist in seiner Unvollkommenheit unüberwindbar bedürftig. Fleisch ist also über die bislang betrachtete Bedeutung hinaus eine Bezeichnung für ein schwaches, sozusagen gegenüber dem guten Willen Gottes entartetes Wollen. „Sarx“ wird hier der Widersacher des „pneuma“. „Werke des Fleisches“ sind nach Paulus[4] Unzucht, Hurerei, Unreinheit, Schwelgerei, Götzendienst, Zauberei, Feindschaft, Spaltungen, Sekten, Mord, Neid, Trinkgelage, Schmausereien, also explizit nicht nur unmittelbar leiblich Bedingtes, sondern auch aus dem niederen Seelischen Stammendes wie eben Eifersucht, Missgunst, Neid, Hass, Rache, worauf auch Augustinus in seinem „Gottesstaat“ hinwies. „Eifersucht, Zank und Bitterkeit beweisen, dass ein Mensch oder eine Gemeinschaft im Fleisch lebt (1. Kor. 3,3). Fleisch als die Menschennatur bezeichnet also im Neuen Testament neben der Geschöpflichkeit zudem ein gewisses Wollen, eine gewisse Form der Geistigkeit also, die, insofern sie sich Gott entgegenstellt, noch nicht durch den göttlichen Geist, den λόγος, bzw. das göttliche Pneuma geläutert wurde. Und wenn Gott versucht, sich im Menschen einzuwohnen, trifft er dort auf den Widerstand des Fleisches, aus dem das Gesetz des „Alten Menschen“ erwächst. Dennoch ist jede Kreatur und insbesondere der Mensch, alles lebende Fleisch also, von Anfang an wenigstens durch einen Funken des göttlichen Geistes erleuchtet und nur dadurch belebt: das πνεύμα του ϑεου (pneuma tou theou), das hier mit dem göttlichen λογος identisch gesetzt ist, der reine Geist Gottes also, inkarniert sich zum πνεύμα του ανϑρώπου (pneuma tou anthropou), der damit auf eine Weise gottähnlich bleibt und seine Gebote erkennen kann.
c) Psyche und Soma
Sarx im engeren Sinne bezeichnet also immer das lebende Fleisch, im Gegensatz bspw. zu kreas (κρέας), den essbaren, zubereiteten Fleischteilen. Später wurde sarx aristotelisch als das „Material“, das stoffliche Substrat des Leibs angesehen und soma als seine Form. Das lebende Fleisch im Sinne von sarx ist zudem immer bewohnt durch psyché als das es belebende Prinzip. Psyché besitzt dabei eine starke Verwandtschaft mit der Vorstellung des schon erwähnten pneuma tou anthropou, des „menschlichen Pneumas“, das ein durch Individuation/Inkarnation „abgesenkter“ Abkömmling des göttlichen Pneumas ist und notwendig nur in Verbindung mit sarx auftreten kann. Dieses „belebende, dynamische Prinzip“ wird im Hebräischen als רוּחַ (ruach), göttlicher Hauch bezeichnet, der sowohl der menschlichen Seele wie auch seinem Fleisch innewohnt. Aus dieser Verbindung, aus der bis zur Ununterscheidbarkeit reichenden Verwobenheit von göttlichem pneuma und irdischer sarx erst erwachsen psyché und soma, und daraus entsteht erst der nous: das gegenständliche Bewusstsein, die Erkenntnis also und die kardia: das zuständliche Bewusstsein mit Gefühl und Leidenschaft. Diesen sehr irdischen seelischen Komplex bezeichnet das Alte Testament vereinheitlichend auch mit näfäsch נֶפֶשׁ. Basar, näfäsch, ruach und leb besitzen immer einen zugleich verwandten und gegensätzlichen Bezug zu Gott und sind ohne diesen Gottespol nicht zu verstehen. Besonders der Mensch ist Gott ähnlich, und dennoch ist er „Fleisch“ wie die Tiere.
Nun begnügt sich die stoffliche sarx nicht damit, die Form des soma auszufüllen und sich von ihm passiv gestalten zu lassen, sondern okkupiert und überwältigt schließlich den Menschen von innen her, also auch das menschliche pneuma mit nous und kardia. Dem stellt sich das alte Gesetz entgegen, das hilft, dass nous sich von sarx emanzipiert – was aber nach Paulus vollständig erst gelingt durch den Eingriff des göttlichen Pneumas in der Gestalt Christi. Zuallererst und allein in Christus konnte das göttliche Pneuma die sarx überwinden und durch Christi leiblichen Tod unter den Martern wurde das Fleisch erst gänzlich besiegt: daher stammt der paulinische Gedanke der Erlösung durch Christus und einer Auferstehung im Fleisch. Denn erst die wahre Existenz des gereinigten fleischlichen, des verklärten Auferstehungskörpers (s.u.)[5] kann die wirkliche Überwindung des Fleisches beweisen. So erklärt es Paulus in seinem Brief an die Galater (5,16):
„Sie haben das Fleisch gekreuzigt samt den Leidenschaften und den Begierden.“
Auch die Taufe bekommt den Sinn einer Abtötung von sarx und die Wiederauferstehung mit einem die sarx dominierenden pneuma mit der heilsfördernden Beeinflussung von nous und cardia zu einer rechten Gotteserkenntnis. Sündhaft ist der Mensch dabei wesenhaft als Fleisch, nicht durch persönliches Verschulden in Glauben und Tat. Die Sünde ist vielmehr objektive Macht, die der Mensch nicht bezwingen kann, weil er Fleisch ist. Die alte „juridische Erlösung“ durch Anwendung des Gesetzes mit Bitte um Vergebung der Schuld und reuiger Annahme der dort vorgesehenen Strafe, ist, paulinisch gesehen, unzureichend: soteria (σωτηρία), Erlösung, erfolgt nicht in der Buße durch Übernahme einer Strafe, sondern ausschließlich durch eine objektive Vernichtung der Sündenmacht selbst: des Fleisches nämlich. Dass wir Gottfernen auch heute noch angestrengt und tatkräftig – man ist inzwischen geneigt zu behaupten: nahezu obsessiv – dabei sind, diesen paulinisch-christianistischen Fundamentalismus zu seiner endgültigen Verwirklichung zu bringen, wird weiter unten an Alltagsbeobachtungen und durch Aufzeigen bestimmter „Triebkräfte“ innerhalb der Wissenschaften belegt. Bspw. zeigt Fundamentalismus seine ungebrochene Wirkmächtigkeit auch im Säkularismus im aktuellen Erstarken des Transhumanismus und einer Wiederkehr eugenischer Motive für politisches Handeln, wie es sich unverhohlen in der Idee einer „Vierten industriellen Revolution“ offenbart, die durch die Produktion von natürlich „besseren“, „verbesserten“ und darin Gott näheren „bodies and minds“ (Y. Harari) charakterisiert ist.[6]
II. Körper, Leib, Fleisch
Ein eher impliziter (psychoanalytisch: „vorbewusster“ oder durchaus „systematisch unbewusster“) „Diskurs des Fleisches“ ist für die geistes- und religionsgeschichtliche Entwicklung des Menschen zentral. Er zeigt sich bspw. schon im bronzezeitlich aufgetauchten und bis heute rätselhaft anmutenden blutigen Opfer, seiner gesellschaftlichen Administration durch Rituale in Großreligionen mit Priesterkaste in den frühen Hochkulturen und schließlich der allmählichen nachachsenzeitlichen Überwindung des Opfers.[7] Er zeigt sich auch in der Kunst, man denke hier bspw. an Künstler wie Stelarc[8], die Brüder Chapman[9] etc., und ihrer geradezu überbordenden Beschäftigung mit dem Fleisch als solchem. Und dennoch fehlte bis vor kurzem eine spezifische „Lehre vom Fleisch“, ein expliziter wissenschaftlicher Diskurs im Sinne einer „Carneologie“. Das nun soll im Folgenden, angeregt durch Vorschläge des Schriftstellers und Medienwissenschaftlers Volker Demuth[10] und der philosophischen Phänomenologie – als Impulsgeber sind hier v.a. zu nennen: Edmund Husserl, Martin Heidegger, Maurice Merleau-Ponty, Michel Henry, aufbereitet für eine heutige Perspektive durch Emanuel Alloa et al.[11] – mit psychoanalytischen Denkmitteln und ausgehend von psychoanalytischer Empirie in stark regressiven Zuständen versucht werden. Dabei kann es hier allerdings wieder nur darum gehen, auf die Verknüpfungspunkte der psychoanalytischen Empirie und Theorie mit diesen philosophischen Verstehensansätzen hinzuweisen. Ihre systematische und philosophie- und theoriegeschichtlich korrekte Verortung kann vom Autor, der kein professioneller Philosoph, sondern Arzt und Psychoanalytiker ist, nicht geleistet werden.
Die dabei erhobenen Befunde werden oft nicht leicht verdaulich sein, weil dieses Vorgehen eine zumindest unappetitliche, wenn nicht gar offen Abscheu und Entsetzen erregende Sphäre menschlicher Wirklichkeit zu erschließen hat, von der, wie es für die Gegenstände der Psychoanalyse nach Jaques Lacan allerdings im Allgemeinen gilt, „niemand etwas wissen will“. Hier geht es um die tiefste Schicht des Unbewussten, um den „realen“ Kern des „Es“, um das primär „Reale“: die Implikationen der schieren Existenz im Fleische. Darüber etwas zu lernen müssen wir Menschen trotz des damit verbundenen Unbehagens auf uns nehmen. Dies, um bspw. die Wurzeln menschlicher Gier und Grausamkeit besser zu verstehen, also den „Sumpf“ vor das Gericht eines nüchternen diskursiven Urteils zu bringen, „woraus die „Schlangen“ menschlicher Verderbtheit sich nährten und ohne den zu kennen man letztere „nicht richten darf“.[12] Aber auch, um die verborgenen und ihrerseits untereinander sich durchdringenden Möglichkeiten von erotischer und spiritueller Erfüllung erschließen zu lernen. Hierbei hat Tiefe der Erfahrung typischerweise immer die Anerkenntnis der Grenzen des Fleisches und nicht ihre heute manisch vorangetriebene Entgrenzung mit letztlich scheinbarer Sprengung seiner Natürlichkeit durch technische und kognitive Eingriffe zur Voraussetzung. Entgrenzung allerdings bestimmt die Visionen, die die heutige unsichtbare, aber wirkmächtige Eugenik und die Transhumanisten, aber auch die eifernden Aktivisten des aktuellen Genderdiskurses umtreibt.
Eine Vision von Entgrenzung, die, das muss man angesichts der zunehmend ans Licht kommenden Realitäten diesbezüglich inzwischen dringend annehmen, eine offensichtlich regelhaft damit verbundene satanisch-satanistische Pädosexualität unter den „Power-Eliten“ hervorgebracht hat.[13] Denn nach den vorliegenden und sich verdichtenden Informationen ist es oft derselbe Kreis von extrem reichen und mächtigen Personen und Gruppen[14], die letztere „privat“ exzessiv und international organisiert praktizieren und ersteres, die sog. „Vierte Industrielle Revolution“, politisch öffentlich, ebenfalls international vernetzt, mit allen denkbaren Mitteln rücksichtslos vorantreiben.[15] Hier scheint sich eine „ungeheure“ Erlösungssehnsucht von trostlos in den Grenzen ihres Fleisches Gefangenen mit den Mitteln historisch einmalig „ungeheurer“ Macht, „ungeheuren“ Reichtums und „ungeheuren“ technischen Wissens auf einem vollständig „gottverlassenen“ Weg in einer „ungeheuren“ Verderbtheit als eine inverse und darin perverse religiöse Erfahrung auf Kosten der restlichen Menschheit ihre Verwirklichung zu suchen. Das spirituelle Kondensat am Fluchtpunkt solchen Sehnens ist geradezu zwingend der Satanismus, denn er ist ein Versuch, quasi am entgegengesetzten Ende des Ethischen – in einer entgrenzenden Steigerung des Bösen also – wiederzufinden, was durch den Verlust der Religion und ihrem Streben nach dem Guten verlorengegangen war: die tröstenden Momente erlösender anamnetischer Erfahrung von Transzendenz im Leben. Hier wurden genuine humane spirituelle Bedürfnisse, die sich weder durch die „sexuelle Befreiung“ noch durch grenzenlosen Konsumismus oder sog. ewigen Fortschritt, der auch ein sozialistischer sein könnte, supplementieren lassen, zusammen mit Gott in den Tod gerissen. Auf diesen Umstand als zentralen Grund der „Défaite de l’Occident“ weist Emmanuel Todd hin.[16] Nun sind diese spirituellen Bedürfnisse, wie Gott auch, natürlich in Wirklichkeit unsterblich und so sind sie dazu verdammt, als Wiedergänger durch eine säkularisierte Welt zu irren: Todd spricht von „Zombie-Religionen“ bspw. in Gestalt der großen politischen Ideologien: Liberalismus, Kommunismus, Nationalismus. Wohl sind auch die technischen Bilder und die digitalen künstlichen Welten ebenfalls Weisen, in denen sich die Gespenster der verdrängten spirituellen Sehnsüchte zeigen und gewaltige Faszination verbreiten – und dabei ganze Generationen verderben. Die ursprünglich in den Religionen organisierten, gemeinsam vollzogenen Weisen spiritueller Erfahrung beruhten auf ritualisierten Formen der Herstellung von Empfänglichkeit in Demut für eine Berührung durch Transzendenz. Diese sozusagen „weibliche Haltung“ wurde durch technische, also willentlich kontrollierbare „männliche Formen“ der Erzeugung von Erfahrung von Transzendenz ersetzt. An die Stelle demütiger Erwartung von trat herbeizwingende Herrschaft über Transzendenzberührung. Gerade in ihrer Eigenschaft als „machbare“ haben die technischen Verfahren zur Erzeugung artifizieller Spiritualität[17] im Gegensatz zu den ursprünglichen religiösen Formen immer die „Struktur der Droge“: sie zeigt sich anfänglich als überstarker Effekt, dann in dessen baldiger Ermüdung mit Toleranzbildung und schließlich in der Konsequenz als eine endlose Dosiserhöhung oder technische Fortentwicklung zur Verbesserung der anfänglichen Effektstärke. Gleich der Ratte, die sich bis zur völligen Erschöpfung manisch lustvolle Stromstöße durch die in ihren Kopf implantierten Gehirnelektroden verschafft, so versuchen die – laut Emmanuel Todd sich spätestens seit der Millenniumswende im „religiösen Nullzustand“ befindlichen – okzidentalen Gesellschaften das Verlorene durch akzelerierendes Sich-Verlieren an die technischen Illusionen wiederzuverschaffen.
Es geht also, mit dem Ziel, diese v.a. im Okzident rasch voranschreitenden Entwicklungen „tiefenpsychologisch“ zu verstehen, um ein Begreifen des Menschenfleisches in seiner puren, sozusagen „instinktverlassenen“ und „a-sozialen“ Form, im Zustand seiner rohgeburtlichen „Zerstückelung“ als die äußerste Möglichkeit „nackten Lebens“. Es geht darum zu verstehen, wie aus einem solchen Fleisch gewaltige Kräfte entbunden werden können, die immer in der Gefahr stehen, gewaltiges Unglück und gewaltige Zerstörung auf die Welt zu bringen. Und es geht im Besonderen um das, was es für das innere Erleben und das Selbstverhältnis des Menschen bedeutet – im glücklicheren Falle „Gottseidank“ nur für Momente – sich als solches quasi pures „Fleisch“ er- oder besser: widerfahren zu müssen. Was ist dessen „psychische Realität“, lautet hier die Frage, welches sind im „inneren Erleben“ die „Abkömmlinge“ dieses abgründigen Orts im Unbewussten, dieser Stufe (nach unten) auch schon im Es? In diesem Sinne will das Folgende versuchen, nicht nur ein psychologischer Baustein für die soziologische Gewaltforschung[18] zu sein, sondern eben auch selbst ein Vorschlag für einen möglichen Ansatz zu dem sich seit einiger Zeit konturierenden Projekt[19] einer dezidierten „Lehre vom Fleisch“, gewissermaßen einer „allgemeinen und speziellen Carneologie“.[20] Eine solche Lehre ist von großer Bedeutung, denn paradoxerweise liegt in den so abgründigen Möglichkeiten der fleischlichen Verfasstheit des Menschen nicht nur der Grund für seine Verderbtheit, sondern zugleich auch der feste und unbezweifelbare Grund, von dem aus sich Bindung, Liebe, Erotik, Erkenntnis, Ethik und die spirituelle Erfahrung auf eine Erhabenheit hin abstoßen können. So ist “Carneologie” also paradoxerweise zugleich auch Theologie.
Schließlich wird hier der implizit „carneologischen“ Spur gefolgt, die Klaus Theweleit gelegt hat, als er eine körperliche Gefühlsbasis für gewalttätiges Handeln im Zusammenhang mit seinem Begriff der Körperfragmentierung[21] annahm. Seine Fragen weisen genau in Richtung der hier angestellten Überlegungen und haben sie überhaupt auch erst mit auf den Weg gebracht. Hierauf wird in einem später folgenden post zur „autotelischen Gewalt“ noch einmal ausführlich eingegangen werden, in der Hoffnung, Theweleits Überlegungen aus der psychoanalytischen Empirie und Praxis heraus nicht nur bestätigen, sondern auch weiterführen zu können. Zu einer eingrenzenden Bestimmung des Gegenstands einer „Carneologie“ erfolgt aber zunächst hier eine Herausarbeitung einiger spezieller Bedeutungen von „Fleisch“[22] im Kontrast zu den Bedeutungen von „Körper“ und „Leib“.
a) Körper
Im Folgenden wird pointiert von „Fleisch“ gesprochen, weil der gängige Begriff des „Körpers“ für das hier Anvisierte zu sehr die Konnotationen aus der Welt des „Todten“ aufweist, von der das Leben dann nur noch als eine „äußerst seltene Art“ erscheint[23] – und daher als zu Verstehendes in seiner Eigenart als vereinzelt lebend und sich dabei selbst erfahrend und darüber beständig werdend gegenüber dem Toten durch eine im öffentlichen Bewusstsein wachsend fundamentalistisch sich gebärdende Aufklärung marginalisiert und daher übersehen wird. Physikalisch „corpus“ oder als das engl. „corpse“, als dem „höchsten Steigerungsgrad des festgestellten reglosen Dinges“[24], zu sein, ausgedehnt und eine fest gefügte Masse zu haben, eine wie am Leichnam allein äußerlich betrachtbare „Gegenständlichkeit“ als wesentliche Eigenschaft zu besitzen, das eben ist nicht das Eigentliche, was den Menschen als biologisches Wesen, als sich als solche bewusste belebte Materie, ausmacht. Vor aller Betrachtung seines äußeren Körpers gibt es nämlich immer schon die vorausgehende „innere Erfahrung“[25] seines Leibes. Sich mehr und mehr als (Ober-) Körper zu definieren und den (Unter-)Leib aller sexuellen Befreiungsversuche zum Trotze durch Betrachtungsexzesse aus dem Zentrum seiner „inneren Erfahrung“ zu drängen[26], ist Ergebnis eines langwährenden spezifischen gesellschaftlichen Prozesses[27], der u.a. auch durch die neuzeitliche, von Descartes schließlich paradigmatisch ausformulierte „Geometrisierung des Menschen“[28] als Abwehr von Fleischlichkeit und Unreinheit[29] charakterisiert ist. Inzwischen kehrte der Leib mehr und mehr wieder ins öffentliche Bewusstsein zurück. Man glaubt, wieder unterscheiden zu können, dass man den Körper hat, aber Leib ist.[30] In der Körperidee und als Körper nun begegnet der Mensch sich selbst empirisch in der cartesischen Welt der zwei Substanzen: als Julien Offray de la Mettries „L’homme machine“. Das Subjekt dieser Selbstbegegnung vermeint das zu sein, was es sieht: das Objekt, das es (auch) ist. Es geht sich aber als leibhaftiges Subjekt auf diese Weise verloren.
In der Selbstbetrachtung und auch noch in der von Husserl und Merleau-Ponty exemplarisch herausgestellten Selbstberührung erfährt sich die ausdehnungslos gedachte res cogitans als res extensa. Die Rückwendung der philosophischen Phänomenologie zum Leib durch Husserl (Leibkörper vs. Dingkörper), und in der Folge bspw. durch Merleau-Ponty (Chiasmus, la chair als Begriff für „die asymptotisch zunehmende Einheit des Wahrnehmenden und des Wahrgenommenen“[31]), Michel Henry (transzendentaler Leib[32]) und Hermann Schmitz („primitive Gegenwart“, „Leibesinseln“, „Alphabet der Leiblichkeit“) stellt die primäre Gegebenheit dieser Dichotomie, den Versuch der „logozentrischen“ Erzeugung von Seinsgewissheit in einer „Subjekt und Objekt“ voraussetzenden reflexiven – und dabei die durch Husserl schon kritisierte Vereinnahmung der res cogitans durch die Gesetze der Welt der res extensae – infrage. Die Phänomenologie sucht stattdessen nach einer „vorbewussten“ d.h. einer jeder bewussten, empirischen, was meint: gegenstandsartigen Wahrnehmung vorgeordneten „präreflexiven“[33] Leiberfahrung als Selbsterfahrung, aus der heraus als seine notwendige Bedingung sich dann erst sekundär das Bewusstsein als ein eigenes und individuelles als Gegensatz zum fremden Objekt, zu dem ein Stück weit immer auch der eigene Körper zählt, emanzipieren kann.
Eine weitere grundsätzliche oder basale „Leiberfahrung“, auf die sich Bewusstsein gründet, die von der Phänomenologie nicht aufgegriffen wird, findet zudem noch hier in den Gedankengängen der posts immer wieder als „empirische Tatsache innerer Erfahrung“ und in der Frage nach ihrer Bedeutung für das Verstehen menschlichen Daseins ihren Platz. Denn anscheinend offenbart sich in verschiedenen menschlichen Grenzerfahrungen, bei Nahtoderlebnissen bspw. und bei den Mystikern, ein bestimmtes nichtalltägliches Verhältnis zwischen Bewusstsein und Körper. Darin nämlich wird einersdeits der Körper/Leib als besonders „schwer“ und „einengend“, als elend und Qualen begründend beschrieben, während der „Austritt“ von etwas nichtmateriell Seelenartigem aus ihm, eine außerkörperliche Betrachtung des Körpers und eine erlebte „Weitung“ des zuvor (präreflexiv) sich als vereinzelt Erfahrenen zu etwas „größerem Ganzem“ in den allermeisten Fällen als „ungeheuer beglückend“ beschrieben wird. Hier wird die im Leben unüberwindbare, geradezu metaphysische „Last“ unmittelbar erkannt, die der fleischliche Körper für das menschliche Dasein darstellt.
b) Leib (Leiblichkeit, Leibhaftigkeit)
Im Begriff des „Leibes“, der auf das mittelhochdeutsche lîp als Ausdruck für Leib und Leben als Ununterschiedenes zurückgeht[34], gelingt schon eine gewisse Annäherung an die hier eingestellte innere Erfahrung des Fleisches, weil er nicht das Sich-vermessen, sondern das Sich-lebendig-fühlen in Behagen wie auch Unbehagen und ein zumindest rudimentäres gestalthaftes Geschlossenheitserleben gegenüber einer dinglich-atomistischen Körpervorstellung, die ihre Ganzheit nur im Systembegriff und einer ausgelagerten Beobachterperspektive findet, betont. Zur Erläuterung der Besonderheit des Leibbegriffs und seiner innigen Verbindung zur „inneren Erfahrung“ dienen folgende Formulierungen durch die Philosophen Emmanuel Alloa und Natalie Depraz:
„Leiblichkeit gibt es sozusagen nur in der ersten Person“.[35] „Auf alle anderen Dinge kann ich einwirken, in meinem Körper dagegen wirke ich. Meinen Leib kann ich nicht betrachten, insbesondere nicht im Spiegel. Das Paradox des Leibes liegt darin begründet, dass mir einzig und allein durch den Leib etwas leibhaftig gegeben sein kann. Der Leib-Begriff lässt sich weder auf die Seite des Körpers schlagen noch auf die Seite dessen, was eine philosophisch theologische Tradition als Seele bezeichnete. Er ist auch nicht berufen, diese Kluft zu überbrücken oder dialektisch aufzuheben. Überhaupt ist der Leib weder ein Kompositum noch eine eucharistische Vereinigung, da er nicht als „beseelter Körper“ zu begreifen ist, sondern vielmehr als „er- und durchlebter“.[36]
Der Leib ist zugleich Organ und Medium, durch das wahrgenommen wird, und Wahrgenommenes selbst. Der Leib ist, was alle meine Erfahrungen begleitet und dort noch vor aller gedanklicher Synthesis a priori unter bestimmten Bedingungen „Einheit“ stiften kann. Im Leibbegriff erfolgt also eine Abkehr von der empirischen zur in gewisser Weise transzendentalen Körpererfahrung, deren wesentlicher Aspekt eine nicht-empirische (i. S. von nicht gegenständlicher) Eigenleiblichkeitserfahrung darstellt, die ihrerseits zuallererst Bedingung der Möglichkeit der Bildung eines, ebenso „transzendentalen“ wie „empirischen“ „Ich“ und der diesem korrespondierenden „Welt“ darstellt. So gibt es für den französischen Lebensphänomenologen Michel Henry eine transzendentale Erfahrung unserer Subjektivität, die sich nicht der Selbstbeobachtung, sondern einem unmittelbaren „Sich-wissen“ als etwas Nichtgegenständliches verdankt, ähnlich der Wahrnehmung von sich und dem Willen als Ding-an-sich bei Schopenhauer. Was erfahren wird, ist dabei nach Henry wie bei Schopenhauer die Subjektivität bzw. der Leib als „Kraft“ oder „Bewegung“, die aber nicht als eine Ortsbewegung missverstanden werden darf. Man könnte daher auch eher von „Bewegtheit“ sprechen. Dieser Kraft- und Bewegungsbegriff wird dann durch den Begründer der „Neuen Phänomenologie“, den Kieler Philosophen Hermann Schmitz, erlebnisnäher in das der – allerdings aus psychoanalytischer Sicht nicht-fragmentierten, also schon getrösteten – „Selbstaffektion“ vorausgehende unmittelbare „Spüren“[37] des Leibs in Gestalt von „Leibesinseln“ in bestimmten Qualitäten überführt. Die basalen Qualitäten der Leiberfahrung bilden nach Schmitz ein „Alphabet der Leiblichkeit“, das in einer „nicht-empirischen“ Selbsterfahrung, ausgehend von der Erfahrung einer „primitiven Gegenwart“ im Schock oder Schreck, in der Entfaltung der Grundqualitäten „Enge“ und „Weite“ fußt. H. Schmitz sagt: Leib sein heißt erschrecken können; was vor allem meint: von etwas betroffen oder in etwas involviert zu sein.[38] Die basale Leiberfahrung der „Enge“ steht dabei, wie schon aus der Etymologie herauslesbar, in naher Beziehung zur „Angst“ sowie damit zum „Trauma“ und, wie man im hier gewählten Kontext hinzufügen könnte, zu „Individuation“ bzw. „Inkarnation“. Sie steht für das, was in der griechischen Philosophie soma sema genannt wurde: der Körper als das Grab der Seele. Und die basale Leiberfahrung der „Weite“ mit der Entgrenzung, dem Rausch, der Seligkeit, der Erlösung steht möglicherweise für ein „anamnetisches“ Ereignis (s.u.) der Annäherung an Transzendenz. Schmitz‘ „Alphabet der Leiblichkeit“ stellt eine erste vorsprachliche Differenzierung und Strukturbildung „im Fleische“ dar, in der sich seine immer wieder einstellende Fragmentierung in der tröstenden „Interaktion“ mit dem mütterlichen Wesen zu „primitiven“, aber, weil von numinoser Dichte und Intensität, höchst erlebnisintensiven inneren Erfahrungen organisiert. Wie lassen sich diese frühesten inneren Erfahrungen vorstellen? Hierzu ein Rückgriff auf eine Theorie der Emotionen aus der Schule der „Theorie der Interaktionsformen“ Alfred Lorenzers.
1. Vorsprachliche Leiberfahrung in der „Theorie der Interaktionsformen“: Autonome Imageries
Von diesen „Interaktionserfahrungen“ bleiben „Vorstellungen“, die Interaktionsformen Alfred Lorenzers[39], deren früheste Manifestationen der physiologisch forschende Psychologe George Mandler „autonome imageries“[40] genannt hat und denen in der psychoanalytischen Theorie der Emotionen des Psychoanalytikers Siegfried Zepf eine zentrale Rolle zukommt. Der Begriff der „autonomen imageries“ meint, dass es bereits sehr früh im Leben des Säuglings Vorstellungen oder „Bilder“ nicht nur von äußeren Sinneseindrücken, sondern auch von interozeptiv-vegetativen und propriozeptiv-motorischen Erfahrungen gibt. Wie es akustische und visuelle, „bildartige“ innere Gestaltbildungen von zuvor Erlebtem als „Niederschlag realer Interaktionserfahrung“ gibt, so gibt es auch „Bilder der damit einhergehenden leiblichen Zustände“. Zepf sieht in diesen „Bildern körperlicher Zustände“ für den erlebenden Säugling subjektiv als verschieden abgegrenzte Gestalten, die als „Prädikatoren“, also „Bedeutungsträger“ für die in den tatsächlichen Interaktionen erlebten Emotionen dienen können. Die „autonomen Imageries“ sind also nach Zepf analog zu den sprachlichen Zeichen Formen, in denen die Gefühle existieren, so wie Begriffe in den sie bezeichnenden Wörtern. Zepf sieht als im subjektiven Erleben Verschiedenheit differenzierendes Kriterium allerdings nur die Intensität der „autonomen imageries“, qualitative Verschiedenheit hält er zwar für möglich, sie wird aber durch ihn aus methodischen Gründen zugunsten des empirisch besser belegbaren rein quantitativen Unterscheidungskriteriums aus seinem Theorieentwurf herausgehalten.[41] Dies scheint mir generell eine Schwäche dieser Art der Theorie, weil sie demgemäß nur von „ungeheure(n) (Reiz-)Intensitäten [kursiv SW]“[42], also bloßen Quantitäten sprechen kann, die der Säugling zu bewältigen hat und in diesem „physiologisierenden“ Denkansatz die hier interessierende Qualitäten des „Ungeheuren“ im subjektiv Erfahrenen unbeachtet bleiben. Immerhin aber ließ sich der marxistische Materialist Zepf zur Verwendung des Begriffs des „Ungeheuren“ hinreißen, was wohl eher unbeabsichtigt einen Weg zu weiterem Nachdenken über ein mögliches, qualitativ näher bestimmbares, archaisches subjektives Erleben, das hier an anderer Stelle als „religiöse Objektbeziehungsdyade“ oder „religiöse Übertragung“ bezeichnet werden wird, eröffnet. Was Hermann Schmitz nun in einem gänzlich anderen Denkansatz als ein „Alphabet der Leiblichkeit“ einführt, ließe sich verstehen als schon in ihren Urformen qualitativ unterscheidbare „autonome imageries“, denn es ist davon auszugehen, dass die von Schmitz phänomenologisch als basale Erfahrungen bestimmte „Enge“ und „Weite“ zu den leiblichen Grunderfahrungen menschlicher Wesen zählen. Dabei könnte man sogar einmal, „transzendenzoffen“, von der Hypothese ausgehen, dass sich über diese beiden Qualitäten unmittelbar Individuation und Inkarnation sowie die Güte des gegenwärtigen Tröstungszustands, quasi im Sinne einer „ratio“, (als Quotient, der an anderer Stelle in den vorausgehenden posts als „soteriologischer Tonus“ bezeichnet wurde) dem Geborenen mitteilt. Denn dafür sprechen die Berichte der Nahtoderfahrenen, die das Verlassen des Körpers als ein Entkommen aus der Enge und eine erlösende Befreiung vom Druck des Körpers und den Wiedereintritt in ihn als geradezu verstörende Einengung erfuhren. Der ungarische Schriftsteller und Photograph Peter Nadás spricht in der Schilderung seiner Nahtoderfahrung in diesem Zusammenhang charakteristischerweise von „Erdenschwere“.[43] Der niederländische Kardiologe und Nahtodforscher Pim van Lommel erhielt folgenden Bericht durch einen Patienten:
„Als ich wieder in meinem Körper zu mir kam, war das schrecklich, einfach schrecklich.... Diese Erfahrung war so wundervoll, ich wollte nie mehr zurückkommen, ich wollte dortbleiben... Trotzdem kam ich zurück. Und von dem Moment an war es für mich sehr schwierig, wieder in meinem Körper zu leben, mit all den Einschränkungen, die ich damals empfand […]. Später erst erkannte ich, was für ein Segen diese Erfahrung für mich war, denn nun hatte ich die Gewissheit, dass es eine Trennung von Körper und Geist und ein Leben nach dem Tod gibt.“[44]
Offenbar gibt es also ein psychisch erlebbares Korrelat von physischer Individuation, dem „Herausgetrenntsein aus dem Ganzen“, das sich dem Individuum als „Enge/Schwere/ Druck/Qual“, im Extremfall schockartig als „primitive Gegenwart“ bis zu seiner Verdichtung zum Trauma „im“ fleischlichen Wesen mitteilt. Diese Verdichtung oder Kondensation zu Engem und Schwerem fasst die kabbalistische Mystik Isaac Lurias als Vorgang räumlicher Kontraktion eines ersten allausgedehnten Wesens mit dem Wort „Zimzum“. „Enge“ und „Weite“ als das lebenslang „im Fleische“ vernehmbare Echo des Widerfahrnisses von Individuation und der „Erinnerung an den vorherigen Zustand“ (vor der Individuation!) lassen sich mit der psychophysischen Entwicklung zunehmend differenzierter erleben, „ausdrücken“ und, bei ausreichend guter Tröstung durch die Mutter, auch zunehmend autark steuern. Darauf gründet die fundamentale Ich-Funktion einer „Selbstkohärenzregulation“, die von der Funktion der „Selbstwertregulation“ zu unterscheiden ist, obwohl beide Funktionen eng miteinander zusammenhängen. „Selbstkohärenzregulation“ bezieht sich auf die Polarität der Qualitäten „heil“ vs. „versehrt/zerstückelt“ oder „ganz“ vs. „fragmentiert“. Dabei kann „Heil“ in einer Gewissheit stiftenden Enge ebenso wie in der befreienden Weite gefunden werden, ebenso wie Versehrtheit sowohl mit einem Zuviel an Enge wie auch einem Zuviel an Weite in Zusammenhang stehen kann.
c) Fleisch
Doch der Leibbegriff der Phänomenologie bei Hermann Schmitz enthält, wie schon angedeutet, aus psychoanalytischer Sicht den Adultomorphismus einer „gewissen“, ob nun „geweiteten“ oder zur „Enge“ sich kontrahierenden, stets aber um einen Erlebniskern „prädimensionalen Volumens“ schließlich sich zentrierenden Ganzheit bzw. Einheitlichkeit. D.h. also, dass Schmitz‘ Leibbegriff eine „gewisse“ Vollständigkeit, Geschlossenheit, Kohärenz, d.h. zumindest Inseln des Nicht-Zerstückeltseins oder Nicht-Fragmentiertseins voraussetzt. Dieser phänomenologische Leibbegriff geht damit notwendig auf das forschende Erspüren von etwas bereits seit längerem Gehaltenen und Gewürdigten, durch den Anderen Anerkannten also, auf Gespiegeltes, Beantwortetes, kurz: auf „Internalisierung“ mitfühlend warmer Beziehungen zurück.[45] „Hinter“– oder vielleicht auch „in“ – dem durch postnatalen Trost erst wieder zum Leib „zusammengesetzten“ und darin mit sich versöhnten Fleisch, das zunächst durch sein Auf-die-Welt-Kommen selbst plötzlich zu „Welt“, zu Fremdem und zur Fremde geworden war, droht aber seitdem lebenslang das Wiedereintreten eines „puren“, weil immer wieder „unbeantwortet“ und somit „trostlos“ bleibenden, damit elementar mit Individuation und Inkarnation „unversöhnten“ Widerfahrnisses Fleisch zu sein. Dies bleibt im allgemeinen Abwehrfuror, der das Leben ist, für gewöhnlich „obskur“ und wird nur in Zeiten tiefster Entwürdigung in allen Momenten äußersten Ausgeliefertseins unmittelbar präsent: sehr wahrscheinlich in Vorläufern bereits im Mutterleib[46], zuallererst und unvermeidbar im Moment der Geburt und für die ausgedehnte Zeit des Schreiens danach, später bei schwerer Krankheit, im Suchtmittelentzug, beim Sterben. Subtiler auch bei den psychosozialen Prozeduren der Anklage, der Verhöhnung, der Verachtung oder der Ausgrenzung und natürlich bei Vollzug direkter Gewalt gegen das Fleisch durch Aussetzung an Hunger und Kälte, in Folter, Vergewaltigung, Verstümmelung, Schlachtung. Andeutungen dieser unheimlichen Seite der Erfahrung eigener Fleischlichkeit zeigen sich unvermittelt im Alltag bspw. beim Anblick bestimmter Präsentation des menschlichen Körpers: als deformierter, als obszöner, als gealterter, als verwundeter, als versehrter und auch in einem besonderen Fokus in Gestalt der Vulva. Daraus resultieren die Ausgrenzungsanstrengungen des hässlichen Körpers aus der Wahrnehmungszone, wozu natürlich auch die ubiquitäre Misogynie zählt und die manisch betriebene Vervollkommnung des Anblicks des Fleisches in Bodybuilding, Pornographie und Schönheitschirurgie.
Zudem gibt es im gewöhnlichen Lebensvollzug noch einen allenthalben gefürchteten Fall „carneologischer Regression“: die Kränkung. Hier führt zumeist eine unerwartete Desillusionierung „im lebendigen Abwehrfuror“ zu einem blitzartigen „Kurzschluss mit dem Fleisch“, von dem eine Erholung zumeist nicht sofort im nächsten Moment möglich ist. Etwas weniger blitzartig, aber dafür umso mehr an seine möglichen äußersten Zustände rührend, ist solcher „Kurzschluss“ im Fall des Suchtmittelentzuges bei Abhängigen. Beides, der langsam einsetzende Entzug und die plötzlich hereinbrechende Kränkung, sind aber in ihrem Wesen identisch: seine fleischliche Verfasstheit wird dem dadurch betroffenen Menschen tendenziell unvermittelt offenbar. Was nun macht das Fleisch des Menschen zu einem „Anderen“ gegenüber dem „der vierfüßigen Thiere“[47], was das Vorkommen solcher „Fleisch-Phänomene“, wie sie hier gerade angedeutet wurden, überhaupt erst ermöglicht?
d) Das Fleisch und das Es
Ein Zusammenhang zwischen einem Konzept des „Fleisches“ mit dem psychoanalytischen Begriff des „Es“ drängt sich auf. Die radikalisierte Annahme, dass das Es „vor allem ein fleischliches“ ist, muss dabei zu einer Neubewertung der Bedeutung von „Gebürtlichkeit“ (Natalität) als einer ubiquitären Traumatisierung allen Lebens durch die innere Erfahrung vollständiger Vereinzelung und maßloser Bedürftigkeit in seiner Verwirklichungsform als lebendiges Fleisch führen. „Eros“ und „Thanatos“ werden darin zu abgeleiteten, also nicht primär gegebenen Bewältigungsformen dieses „Individuations/Inkarnationsschocks“. Abhängig von der je besonderen inneren Natur des Einzelnen und der Tauglichkeit der ihn umgebenden kulturellen „Ordnung des Trostes“, werden Keime von “Eros” und “Thanatos” in unterschiedlicher Stärke und Mischung zunächst “eingesät”, um dann in ihrer je besonderen „Mischung“ zu schicksalsbestimmenden Kräften heranzuwachsen.[48] Eine in Relation zum je individuellen Kompensations- bzw. Resilienzpotenzial seiner inneren Natur übermäßige „Trostlosigkeit“ führt ein inkarniertes Individuum häufig in psychische und/oder körperliche Krankheit, und zwar bekanntermaßen umso mehr und in umso destruktiverer Form, je kräftiger bzw. „entmischter“ Thanatos gegenüber Eros ist. Solche Krankheitsdisposition führt u.U. dort, wo ihre Projektion nach außen erfolgreich ist, am Ende in die bestialische Gewalt direkt am Fleisch des Anderen oder auch, als ihr Supplement, direkt am eigenen Fleisch. Weshalb auch im Kriege die seelische Gesundheit einer Bevölkerung sprunghaft zunimmt, worin wohl auch die Sehnsucht nach dem Krieg mitbegründet ist: vom Kontakt mit sich und seinem Leiden durch die äußere Not, und sei sie extra zu diesem Zweck künstlich erzeugt, abgelenkt zu sein. Durch regressive „Entmischung“ von Eros und Thanatos oder entwicklungsgeschichtlich ausbleibende „Vermischung“ kann jene von Jan Philipp Remtsma so bezeichnete „autotelische Gewalt” entstehen, die allein sich selbst zum Zweck hat.[49] Hier wäre noch zu ergänzen, dass es natürlich auch Formen autotelischer „Beziehungsgewalt” gibt, die nicht direkt am Fleisch, aber durch brutale Akte eines unerwarteten Beziehungsabbruchs und plötzlichen Verrats dafür umso nachhaltiger im Fleisch des Opfers verwunden, verheeren und schwären. Dies war das Thema im post zum Film „Pietà“ von Kim Ki Duk, der das Verhältnis von Beziehungsgewalt „im Fleisch“ zu körperlicher Gewalt „am Fleisch“ zum Gegenstand hat. Solche tiefste Verletzung, die eine Verwundung des Selbst und oft eine dauerhafte Beschädigung der Ich-Funktion der Selbstkohärenzregulation zur Folge hat, heilt in der Regel weniger leicht als die Folgen körperlicher Gewalt heilen und ist nicht selten Quelle jener später auftretenden autotelischen Gewalt direkt am Fleisch, deren oft fassungslos machende Grausamkeit und scheinbare Grundlosigkeit oder deren Rätselhaftigkeit als hereinbrechende Krankheit durch den Betroffenen und auch den hilflosen Beobachter als “sinnlos” erfahren wird.
Solche Gewalt wurde in den vorangegangenen posts untersucht und verstanden als eine – im Sinne von „tätlich“ – “praktische“ Externalisierung” des ungetröstet gebliebenen „Inkarnationstraumas“, die durch ihren tätlichen, „projektiv-inkarnierenden“ Aspekt nicht nur sozusagen letzte „carneo-ökonomische“ Entlastung bietet, sondern zugleich auch ein letztmöglich kreatürlicher Ausdrucks- und Kommunikationsversuch ist: bestialische Gewalt, das ist das unmittelbar “im spontanen Ritual” einer Tat sich zum „Sprechen“ bringende und zum Sprechen gebrachte, ansonsten unsagbare bestialische Leiden des Täters am eigenen Fleisch, bei dem das Entsetzen des notwendig involvierten, weil sich nicht entziehen könnenden Betrachters unmittelbares Verstehen “in seinem Fleisch” indiziert. Gewalt „spricht“ eben dadurch, und zwar aufs Äußerste präzise, gerade indem sie nicht spricht. Die Erkundung dieses äußersten Pols menschlichen Leidens und menschlicher Verderbtheit erfolgt hier mit dem Ziel, weniger deutliche, wenngleich auf denselben Ursachenkomplex zurückgehende Erscheinungen menschlicher „Schlechtigkeit“ , vor allem aber auch seelische und körperliche Krankheit als eine besonders versteckte Form gegen das eigene Fleisch gerichteter autotelischer Gewalt verständlich werden zu lassen. Die gewählte Perspektive wendet sich dabei explizit gegen eine neuerlich wieder aufkommende Tendenz zur „Renaturalisierung“ menschlicher Gewaltsamkeit in mancher aktuellen Gewaltforschung.[50] Denn es wird hier am Anspruch unbedingt festgehalten, für zukünftige Wiederherstellung suffizienter Sozialisationsmilieus und einer politisch-ökonomischen Ordnung, die die Auftretenswahrscheinlichkeit schwer gewaltsamen und krankhaften Verhaltens sowie seelischer Krankheit geringer machen, einen Beitrag aus psychoanalytischer Erfahrung zu leisten.
Das „ungetröstet gebliebene Inkarnationstrauma“ als potenziell gewaltsäende Erfahrung – besser gesagt: als “Widerfahrnis”, weil ohne durch Vermittlung mildernde seelische Aktivität “erfahren”– wird dabei allem Anschein nach geschlechtsspezifisch unterschiedlich verarbeitet und agiert: beim Mann dominiert gewöhnlich die Gewalt gegen den Körper des Anderen, bei der Frau die Gewalt gegen die Beziehung zum (abhängig) Anderen. Am Grunde solcher Gewaltsamkeit liegt aber etwas präsexuell Gegebenes: über die bereits unternommene kursorische kontrastierende Darstellung von „Körper“, „Leib“ und „Fleisch“ ließ sich die häufigste und gewöhnlichste Manifestation abgewehrter „Affekte“ aus dem „carneologischen Unbewussten“ herausarbeiten: die Kränkung, die in nochmaliger terminologischer Anleihe aus der Elektrodynamik auch als ein „Kurzschluss mit dem Fleisch“ bezeichnet wurde. Solcher “Kurzschluss” meint eine oft blitzartig einsetzende, ungeschützte Erfahrung der eigenen rohen Fleischlichkeit oder physiologischen Frühgeburtlichkeit, die zur physio-psychischen Freisetzung und „Übertragung“ „ungeheurer“ Erregungsquantitäten oder besser, mit Rücksicht auf ihre „Sprengkraft“: Erregungsvolumina in den „Leibraum“ und ins Bewusstsein führt, deren eigentliche Quelle im ubiquitär-traumatischen Geschehen von Inkarnation/Individuation liegt. Kränkung, Krankheit als mögliche Folge ihres Übermaßes in Intensität und Dauer und schließlich kränkende und krank machende Gewalt gegen „das Fleisch” und gegen „die Beziehung“ werden in der hier entfalteten Betrachtung zu Erscheinungsweisen ein und derselben „carneologischen Regression“: einer Regression auf die Stufe des ungeschützten und daher fürs Individuum unverkraftbaren Widerfahrnisses einer nicht mediatisierten Qual bzw. eines nicht-mediatisierten Elends fleischlicher Existenz. Dies meint eine bestimmte „Qualität“ von Zerstörung aller „Qualitäten“ innerer Erfahrung, die einen „Widerfahrungsraum“ des Seins als „nacktes Leben“[51], als etwas „Zerstückeltes“ und/oder, in den drastischen Worten des Maler Francis Bacon, geradezu als eine erbärmliche „Lache von Fleisch“, eröffnet.
Und dennoch ist es, und dies im völligen Gegensatz zur geschilderten Destruktivität von Kränkung, auch so: ohne jede Kränkung geht der Mensch seiner „präreflexiven“ Subjektivität, seiner unbezweifelbaren Seins- und damit Selbsterfahrung als ein „Jetzt-Dieses-Hier“ (H. Schmitz) verlustig. In einer scheinbar idealen Welt, wo die Kränkung abgeschafft wäre, würden sich die Menschen nicht mehr spüren und kennen. Es braucht eben diese „widerfahrende“ Selbstbegründung im Fleische, von der aus erst sich Bindung, Liebe, Erotik, Erkenntnis, Ethik und die spirituelle Erfahrung auf Leidenschaftlichkeit und Erhabenheit hin abstoßen können. Auf dem sich aber eben auch und zuallererst ein sicheres „Sein“ als wesentliche Quelle von Selbstkohärenz konstituieren kann. Dieses Sein ist wesenhaft sozial. Deshalb müssen wir als Menschen uns unablässig den anderen „antun“ und uns etwas durch sie antun lassen. Schmitz nennt dessen wechselseitigen Vorgang, sich etwas anzutun und damit zugleich sich Selbstgewissheit und unmittelbar die Gewissheit von Fremdexistenz zu verschaffen, „Einleibung“. „Einleibung“ dürfte im Phänomen der Übertragung eine wesentliche Rolle spielen. Was also hier ganz unzeitgemäß zu fordern wäre, ist: mehr Diskriminierungstoleranz! Und noch etwas wird an dieser Stelle sichtbar: wo übermäßige Macht und/oder übermäßiger Reichtum von Menschen ihre eingeborene grenz- und ichsetzende Kränkbarkeit als zu tolerierendes Widerfahrnis wegretuschiert, dort setzt eine rastlose Suche nach Supplementen für Grenzerfahrungen im Außen ein. Vor Grausamkeit wird nicht nur nicht zurückgeschreckt, sondern sie wird geradezu zum letzten Mittel der Selbstbegründung. Um nun das hier zum Fleische zunächst relativ abstrakt Gefasste konkreter und alltäglicher werden zu lassen, folgt nun eine Kompilation gewöhnlicher sprachlicher Formen, in denen das Gemeinte zum Ausdruck gebracht wird.
III. Kleine Propädeutik zum Fleisch aus dem „niederen carneologischen Alltag“
a) Das Fleisch als Grund aller Hoffnungslosigkeit – eine Schundlektüre menschlicher Wirklichkeit[52]
Was ist „Fleisch“, was ist an ihm und von ihm subjektiv zu erleben, wahrzunehmen, zu erkennen? Wie erscheint Fleisch in der „inneren Erfahrung“? Gibt es „Fleischgefühle“ und unbewusste Repräsentanzen von „Fleischlichkeitserfahrung“? Gibt es eine anthropologisch konstante Weigerung, diese zumindest für längere Zeit bewusst zur Kenntnis und als wesentlichen Bestandteil der Selbsterfahrung auf sich zu nehmen? Hierzu sei als eine erste Annäherung ein kurzer Blick in ein kleines, zu diesem Zweck neu erstelltes heterologisch[53]-carneologisches „Vokabelheft“ gewagt. Darin findet sich die – durch religiöse und aufklärerische Begriffsantibiose zusammen mit den Verheißungen des Wiederauferstehungskörpers und des Transhumanismus ins Dunkle abgedrängte – „unliebsame Verwandtschaft“ des Fleisches, wie sie sich ungebeten immer wieder in den Alltag des um Würde ringenden Menschenwesens hineindrängt, trefflich beschrieben. Denn am Anfang – und als lebenslang drohende regressive Möglichkeit – ist es so: Fleisch kriecht, Fleisch windet sich, wimmelt, wimmert und ist wund. Es jault, es brüllt, es stöhnt, es röhrt, es seufzt, ächzt, lechzt, es grunzt, es geifert. Es keucht. Unstillbar bedürftig ist es, sehnt sich süchtig, siecht, sucht, unersättlich gierig, ein kolossales „craving“. Es sabbert, es schmatzt, es würgt und schlürft. Fleisch windet sich und zieht sich zusammen wie ein Wurm und zittert. „Es scheißt, es fickt“, so steht es im „Anti-Ödipus“ von Deleuze und Guattari.[54] Ja, durchaus, aber „es“ ist eben keine Maschine: denn das „Es“ ist vor allem ein fleischliches. Als eine Maschine könnte es noch mit einem gewissen Stolz auf das komplizierte Räderwerk blicken, das es ausmacht. Als Fleisch dagegen ist „Es“ eher eine zuckend zähflüssige Lache, eine unförmig formlose Biomasse, der die würdeverleihende triebzielgerichtete Wunschmechanik zur allmählichen Aufrichtung im Gegensatz zum Tier erst mühsam beigebracht werden muss. Denn am Anfang gleicht es oft einem glühenden Klumpen bloß, der schwitzt und spritzt, nässt und pisst, rülpst und kotzt, stinkt, später masturbiert, menstruiert, ejakuliert und anderes Fleisch er- und ausbrütet, gebiert. Es ist feucht dieses Fleisch und es fließt, es tropft, es furzt, es gellt, es ist geil. Manchmal ist es auch trocken und öde wie Holz, zäh wie Leder, starr, hart und kalt wie Kruppstahl: ein Panzer. Dann wieder ist es reine Wunde, weich, nässend, ohne jeden Widerstand, flüssig, es weicht zurück, weicht auf, zerfließt und ergießt sich: als Sperma, als Blut aus den geöffneten Gefäßen, als Speichelstrom aus dem gelähmten Mundwinkel, als Schrei, als Lust- und Säftestrom, Samenstrom, Menstruationfluss, als Gedankenstrom und diarrhöischer Redefluss. Es dünstet aus, dampft und müffelt vor sich hin. Es fällt ein, es verkrustet, es vertrocknet, es verkümmert, es verschrumpelt, es verwest, vergeht, es zerfällt. Es bläht sich, bläst und bäumt sich auf, es blüht, es quillt, ist aufgeschwemmt, es krümmt sich unter den sinnlosen Konvulsionen seiner maßlosen Erregung.
Daher fasziniert es umso mehr als junges, als pfirsichhautumschlossen unversehrtes, in seiner makellos glatten gretchen/adonishaften Reinheit, in seiner vollkommenen Rundheit, in seinen muskulären Konturen und prallen Fülle: eine wahre Pracht. Es verführt in dieser numinosen „Kontrastharmonie“ zur anbetenden Selbsterniedrigung bis zur obsessiven Unterwerfung wie zugleich zum lustvoll-befreienden Impuls seiner entweihenden Befleckung, Besudelung, Penetration und Zerstörung.[55] Die erotische Anziehung des schönen Körpers, idealerweise jungen Fleisches, ruht also auf dem stets drohenden Entsetzen über seine Mangelinflation, seine täglich wachsende Morbidität mit seinem Welken in eine zerfurcht-zerklüftete Faltigkeit und kümmerliche Schlaffheit. Und würde ihm nicht zumindest anfänglich aus dem drohend dumpfen Abgrund der Erbärmlichkeit durch andere fleischliche Wesen heraus- und heraufgeholfen – zu Beginn meist jenen, denen es entstammt und später jenen, die dasselbe Schicksal ereilt – und in unzähligen Akten der Anerkennung in tiefer Verbundenheit verlässlich Würde zugesprochen und für viele arbeitsreiche Jahre tagtäglich tatkräftig gegen alle akneiform sprießende Scham und Selbstwertzweifel sowie geburtsvererbte Existenzschuldgefühle (allesamt vorauseilenden Schatten dämmernder carneologischer Bewusstwerdung) immer wieder von Neuem verliehen, begänne es dann nicht, je nach natürlicher Anlage, in mehr oder weniger ausgeprägter Intensität mit einer stillen oder lärmenden Raserei gegen sich und andere? Um das Fleisch, weil es als physiologische Frühgeburt nichts kann, muss man sich kümmern, um es aus dem Dreck zu holen, der ihm von Natur aus anhaftet und in dem es rasch wieder versinkt, wenn die beständige Sorge sistiert. Sonst verkümmert es und verwandelt sich rasch in „einen Dreck“. Der Begriff „Kummer“ stammt ab vom mittelhochdeutschen Wort „Kumber“ und bedeutet eigentlich „Schutt, Müll, Unrat, Mühsal“. Das Infans muss also aus dem Status der abfallverdächtigen Absonderung und Ausscheidung erst in den Stand eines würdewerten Wesens durch ständige Beseitigung des somatopsychischen Drecks und seiner zahlreich sublimierten Spritzer erhoben werden.
Dass all diese Formulierungen keineswegs übertrieben sind, sondern ganz reale menschliche Lebens- und Erlebensformen beschreiben, auf die man in der sozialen Wirklichkeit trifft, weiß derjenige, der einmal längere Zeit mit der Versorgung von Suchtkranken befasst war. Hier werden die unvorstellbarsten Zustände der Verwahrlosung und Verdreckung beobachtbar, in denen ein abgründig erniedrigtes Kernselbstgefühl der Kranken aufgrund ihrer Unfähigkeit zur Selbstfürsorge sich artikuliert, das einen wahren Sturm des Abscheus oder auch eine rasende Rettungsaktivität in der „Gegenübertragung“ seiner Umgebung in Gang setzt. In der Wucht des Erlebten im Moment des Sich-Kümmerns um einen solch‘ verkommen Verkümmerten (bislang sind es zumeist Männer) dämmert die Ahnung darüber herauf, was ihre Inkarnation für alle physiologisch Frühgeborenen einmal bedeutet haben muss: nämlich instinktverlassenes (im Sinne der Unreife der physiologischen Frühgeburt) und a-soziales (im Sinne des Fehlens der instinktsubstituierenden sozialen Praxis) und dabei zugleich maximalisoliertes Fleisch zu sein. Darum kann auch der „soziale Tod“ dem physischen an Schrecken weit überlegen sein. Denn er verweigert dem zum Elenden Erniedrigten die Erlösung. Das Schicksal der Figur des Grenouille aus dem Roman „Das Parfüm“ von Patrik Süßkind hatte uns an früherer Stelle in einem post bereits vor Augen geführt, was geschehen kann, wenn die Erhebung des Geborenen aus seinem Fleische durch die Mutter unterbleibt und er unter die fleischlichen Abfälle gerät. Der Roman hat weltweit Millionen tief berührt, ohne dass sich bislang vielleicht „wirklich“ verstehen ließ, was genau es war, was die Menschen in dieser äußerst befremdlichen Geschichte erreichte.
b) Fleisch als Verheißung: der neue Gott der Aufklärung – eine primitive Polemik
Bisweilen scheint es, als sei mit der Aufklärung die Anbetung des Fleisches allmählich an die Stelle der Anbetung Gottes getreten: Fleisch ≠ Gott wurde zu Fleisch = Gott. Seine Anbetung erfolgt in praxi in der fortschreitenden techno-ästhetischen Optimierung des menschlichen Körpers. Der fleischliche Körper wird sukzessive von allem bereinigt, was an seine Versehrbarkeit, Verderbtheit und Verderblichkeit erinnert, an das „Unreine“ also: das Niedrige, das Hässliche, das Schlechte und das Böse.[56] Auf diese Weise ist das Fleisch unmerklich in kontraphobischer Abwehr zum neuen, diesseitigen Erlösungsversprechen als Ersatz für das verloren gegangene jenseitige herangereift. War es zuvor der kosmische Gegensatz zum Göttlichen, tritt es jetzt offenbar im Sinne einer gigantischen kollektiven Reaktionsbildung eines ganzen Kulturkreises ganz und gar an seine Stelle. Die mit dieser „Spaltung des Fleisches“ einhergehende Verleugnung der „natürlichen Ambivalenz“ alles Fleischlichen, seiner die erotische Anziehung zwischen den Leibern gründende „Kontrastharmonie“ von durch es zugleich erfahrbarer Versehrbarkeit und „erotischer Anamnesis“[57] ist inzwischen weit fortgeschritten und manifestiert sich in „säkularen Kulten des Fleischlichen“: als Bodybuilding und Tatooing oder in Gestalt von Hochglanz-Schönheitsikonen in Photographie und Film. Piercing, Pop und Porno versetzen Ströme von „imitatio bodii“-Versessenen beim Auftauchen aus den göttlichen Welten ihrer Bildgeräte heraus in eine lebenslange autooptimierende Unruhe. Dies betrifft übrigens auch die „künstlichen Körper“: Autos, urbane Inneneinrichtungen oder technisches Kleingerät. Weil „Design“ sich hier mehr und mehr an die Stelle von „Sein“ setzte, rückten „Schönes“ und „Schales“ nah aneinander. Denn das Schöne hat für seine Intensität die bejaht tolerierte Drohung des stets hereinbrechen könnenden Hässlichen zur Voraussetzung. Die durchästhetisierte Palette der Konsumartikel dient zum geringsten Teil eigentlicher Bedürfnisbefriedigung, sondern ist stattdessen „enhancement“ narzisstischer Größen- und Reinheitsphantasmen[58] und formt sich damit zu einem durch Aneignung „feiner Unterschiede“[59] oder in virtuellen Vollständigkeitsräuschen vollzogenen nun ohne sein Fundament im Niedrigen fliehenden „elevatorischen Imperativ“. Ein jeder möchte sich durch rastlosen Konsum und Aneignung ranggenerierender Insignien in möglichst exklusiver Göttlichkeitsnäherung positionieren, sich als auserwählt und einzigartig fühlen. Oder in der perfekten Simulation einer Computerwelt als Avatar selbst perfekt sein. Hier ist seit langem schon eine panische Flucht zu beobachten vor der dunklen Seite des Fleisches in eine Welt heller, zeitlos gestraffter Häute. Waren es in der Vergangenheit zunächst „polizeyliche“[60] Disziplinierungsvorschriften[61] und später Lichtbäder nach massengymnastischen Willenstriumphen, so sind es jetzt Selbstoptimierungsmonitoring und Kalorienkalküle, die die Qualität einer fragilen Elevatorik sichern. Ihnen zur Seite treten gen- und nanotechnisches Körper-Editing, eugenische und reproduktionsmedizinische Selektions- und Zuchtvorhaben, die plastisch-prothetische und die Transplantationschirurgie und nicht zuletzt auch das pharmakologische Körper- und Seelenlifting mittels Botox und Prozac. Dort, wo in den Innenstädten der vielfältige Einzelhandel aus den Ladenlokalen verschwindet, prosperieren stattdessen Sonnen-, Sport- und Nagelstudios sowie die Verkaufsplätze von Fitnessnahrung. Das zunächst in der „Disziplinargesellschaft“ Foucaults durch körperliche Übung und Redressierung an der Außenseite des Fleisches Vollzogene wird durch molekulare Technologien zunehmend in seinen tiefsten inneren Faserverlauf eingeimpft. Das Fleisch hat sich zur Überwindung seiner Dunkelheit dem stetigen Fortschritt zu unterwerfen und ist zu erhellen und zu verbessern, bis es ein von Grund auf selbstgeschaffen Neues geworden ist! Das ist die stumme liturgische Vorschrift zu den praktizierten alltäglichen und wissenschaftlichen Ritualen der Anbetung des Fleisches. Eine Religion und Wissenschaft engführende humangesteuerte, technisch gesicherte Carneo-Evolution mit empirisch fundierter Verheißung ist an die Stelle des jeden Glauben begleitenden natürlichen Zweifels getreten. Als fortschrittsbeweisend erweisen sich hier gänzlich neuerschaffene natürliche Wirklichkeiten wie die kürzlich befreite Gerontosexualität mit Viagra-gestützter Greisenzeugung und postmenopausaler Mutterschaft, die den Ewigkeitswillen aller Lust zur innerweltlich realisierbaren Option gemacht hatte. Das Menschenfleisch hat sich also erfolgreich um die freigewordene Stelle des verstorbenen Gottes beworben und wächst mit seinen Aufgaben: denn vollkommen wird es werden und unsterblich.[62] „Es gibt ein Leben vor dem Tod“, lautete die altlinks-grüne Bio-Erlösungsformel[63], denn, ganz reichianisch: „Leben ist Umsatz von Materie in Lust.“ Solcher Optimismus jedenfalls zierte für Jahrzehnte in dicken Lettern die Schamwände der Universitätstoiletten. Der psychoanalytisch geschulte Psychopathologe argwöhnt hier natürlich völlig zu Recht schon beim flüchtigen Hinhören Anzeichen angestrengter seelischer Abwehrarbeit. In seiner Perspektive ist diese „Vergöttlichung des Fleisches“ unter Verleugnung alles Abgründigen natürlich eine Spaltung: die carneologische Spaltung[64], wie Volker Demuth schreibt. Sie erscheint als Amalgam zwischen säkularer Emanzipationsstrebung einst klerikal unterjochter Körper und der fortan verdrängten unbewusst wirkenden, ursprünglich religiösen Strebung nach Erlösung vom Fleisch. Sie ist darin Abwehrbewegung gegen dessen Erfahrung als abgründige und unüberwindbare Leidensquelle, der auch nach aller denkbaren Revolutionen und „totaler Befreiung“ in Drogenexzessen niemand, außer um den Preis des Lebens selbst, zu entkommen vermag.
Nach, um ein Wort Jaques Derridas zu verwenden, der „Schließung (clôture)“ von Religion wird also die Erlösung vom Leiden am Fleisch durch eine neue Form von Erlösung vermeintlich durch das Fleisch substituiert, in der es selbst, nachdem es zuvor die Eintrittspforte des Bösen gewesen war, reaktionsbildend zum Zentrum aller Lust und Glückseligkeit erhoben wird. Volker Demuth schreibt:
„Die Geschichte des Fleisches war eben auch diejenige eines Hoffnungsträgers, Schauplatz von Überschwang und Rausch, bewegliche Bühne höchsten Glücksempfindens. Hier, im Menschenfleisch, lag die wirkliche Keimzelle historischer Glücksforderungen und Freiheitswünsche.“[65]
Daher musste es zunächst ganz irdisch noch tatsächlich erleichtert werden von allem kirchlichen und weltlichen Joch. An die Stelle von religiös verstandener „Erlösung“ trat daher fortan „Befreiung ohne Ende“ oder „ohne Ende Befreiung“, „no limits at all“, „I love Genuss sofort“, unendliche Transgression[66] unter Abdrängung der Optionen des Verzichts und der Mühe. Wer dagegen Maß einforderte, geriet rasch in den Verdacht, die Menschen ihrer modernen Erlösungschancen berauben zu wollen und verkörperte darin alsbald das säkulare Böse: den Fortschritts- und Wissenschaftsfeind, den Grenzen anmahnenden Teufel – was sich bspw. aktuell in den Diskussionen zu den Flüchtlingsströmen oder an missratenen Figuren wie dem völlig entgrenzten und dabei dennoch in der Öffentlichkeit substanziell unkritisiert bleibenden Jan Böhmermann im öffentlich-rechtlichen Fernsehen bemerkbar macht. An die Stelle der Religion als Erlösungsinstitution traten die Emanzipationsideologien, die sozialen Utopien bis zum heutigen Öko- und Klimafundamentalismus mit seinen unverkennbar religiös-sektenartigen Zügen, neben einem immer weniger bloß unterschwelligen Alters- und Fitness-Rassismus. So auch das „social engineering“ der Soziologie, die Hygienebewegungen, der Sozialismus mit der „Allverbundenheitsillusion“ einer Massensolidarität als Erlösungssubstitut sowie Pädagogik, Psychotherapie und Psychoanalyse als säkularisierte Seelsorge mit eigener „psychopädagogischer Heilshoffnung“ – und, ganz aktuell, am vorläufigen Endpunkt sozialstaatlicher Expansion, an die Stelle der schweißtreibenden Mühsal des Lebens das schnelle Konsumevent unter mühelos-materieller Grundversorgung.
Auch das pandemische Auftauchen von Sucht im Europa der Neuzeit[67] dürfte sich der Anstrengung verdanken, dass das durch künstlich in die Höhe getriebene Geburtenraten plötzlich massenhaft anbrandende, verelendende Fleisch in der zartesten Morgenröte frühpharmakologischer Biotechnologie – erst ab dem 13. Jahrhundert gelangte die Kunst der Branntweingewinnung aus den Klöstern allmählich in die profane Welt – für eine „Beglückung für die größtmögliche Zahl“ heranziehen zu wollen. Als Spätfolge dieses wissenschaftlich-carneologischen Erlösungsprojekts einer bioaktiven, psychoanalgetisch-antidepressiven Pharmakologie[68] – „Defeat Depression!“ lautet noch immer die Parole – beobachten wir heute in England die Verunreinigung des Trinkwassers mit selektiven Serotonin-Reuptakehemmern.[69] Dass deren massenhafte ungezügelte Einnahme zudem nicht zu einer Abnahme, sondern zu einer Zunahme von Selbstmorden geführt hatte, war eine peinliche Entdeckung auf dem Höhenflug der Glücksingenieure im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts: „because it doesn’t work“.[70] Frappierend geradezu ist übrigens auch die real-symbolische Querverbindung zwischen den pharmakologischen, faschistischen und technologischen Elevationsverheißungen: die zum Heil Hitlers gestarteten V2-Raketen Wernher von Brauns wurden mit der chemischen Substanz „Hydrazin“ angetrieben, dem Grundstoff der später in den USA entwickelten sog. Monoaminooxidase-Hemmer: jene aktivitätssteigernden Antidepressiva, die die Amerikaner im Wettkampf um die Eroberung des Weltalls mit Wernher von Brauns Raketen den erlösenden Sieg zu erringen erleichtern sollten.[71]„Pharmakologie“ steht etymologisch in Zusammenhang mit dem „pharmakos“, dem Erlösung versprechenden Menschen- und später Tieropfer im archaischen Athen. Eine Erlösung von der Hölle des Fleisches wird heute also nicht mehr von einer kollektiven Partizipation am fleischlichen Opfertod von Sündenböcken erwartet, sondern durch die pharmakokatalytische Ingangsetzung einer postulierten „Erlösungsbiochemie“ durch technische Indienstnahme der Glückshormone im Fleisch selbst. Wir können uns nun den riesigen Umfang unserer „Roten Liste“, insbesondere ihren die Psychopharmaka und Schmerzmittel betreffenden Teil, leicht erklären. Sie in ihrer Verheißungspotenz werden gerade beerbt und übertroffen durch die sog. m-RNA-„Impfstoffe“, die, sich selbst replizierend und den Nichtgeimpften ansteckend, uns zukünftig vor allen denkbaren Anschlägen der Natur oder anderer Bioterrorismen auf unser Fleisch schützen sollen.
IV. Die Zukunft anthropotechnischer Illusionen: Fragmente einer zeitgemäßen psychoanalytischen Religionskritik
a) Die Verherrlichung des Körpers ist psychoanalytisch eine Reaktionsbildung.
Der Psychoanalyse könnten diese wenig bewussten sakralen Konstellationen im Säkularen eine Aufforderung zu neuerlicher religionskritischer Desillusionierung sein, denn es scheint an der Zeit, über die zeitgeistliche Anbetung des Körpers als Götzen aufgeklärten Seligkeitsversprechens ihrerseits aufzuklären und sich wieder jener Wirklichkeit bewusst zu werden, die psychoanalytische Behandlung beständig ans Licht der unmittelbaren Erfahrung bringt: dass „Fleisch-sein“ ursprünglich und immer wieder eine bisweilen gar unsägliche Bürde ist. Das wäre wohl zugleich eine rechte Übung in Häresie für uns gläubige Atheisten. Und vielleicht läge in einer Wiederherstellung eines Bewusstseins für die je eigene Fleischlichkeit als Bürde auch die Chance für die Wiedererlangung einer genuinen Würde des menschlichen Daseins, die etwas ins Hintertreffen geraten ist unter der allgemeinen Akkumulation studiogestylter Körpermassen und allen damit assoziierten, ebenso hochintensiven wie kurzlebigen Bewunderungs- und Beiwohnungshöhepunkte. Es war bereits aufgezeigt worden: Fleisch-sein, Individuum-sein, Singularität-sein, Geboren-sein ist zunächst weniger ein Geschenk als ein aufgezwungenes Elend: zuerst und vor allem ein verdammungsgefährdendes Leiden an der „Zerstückelung zum Individuum“. Herzliches Beileid zum Geburtstag also! „Bedaure nicht die Toten, sondern bedaure die Lebenden“ lautet daher der weise Rat an Harry Potter, als er nach seinem Tod seinen ebenfalls verstorbenen alten Lehrer Dumbledore in einer Nahtoderfahrung wiedertrifft.[72] „Lachend beginnt niemand mit sich und der Welt“ schreibt der Natologe L. Lütkehaus.[73] Das Lachen nämlich setzt erst ein mit dem ersten selbstbewirkten Triumph der zuvor aufgeholfenen Seele über das vor sich hinfibrillierende Fleisch und findet sich fortan überall dort, wo „Kontingenz entdeckt“[74] wird. Das zufriedene Lächeln der Säuglinge bei der Erfahrung souveräner Selbstwirksamkeit (als „Anamnesis“ einstiger Allwirksamkeit) hat die vorgängige, von Zeichen des Kummers begleitete Auslieferung an das eigene Fleisch zuallererst zur Bedingung. Es ist übrigens anzunehmen, dass schon Sigmund Freud von diesen carneologischen Zusammenhängen um die Gebürtlichkeit zumindest eine deutliche Ahnung besaß, wurde er doch durch die biographische Forschung mit guten Argumenten als „Geburtstagsgrantler“ ausgewiesen. [75]
Inter urinas et faeces lavamus. Badezimmer- und Toiletteninterieurs, wie man sie heute in Hotels, Bahnhöfen und allmählich auch schon in bescheideneren Wohnwelten vorfindet, lassen eher an das Innere von Tempeln denken als an einen Ort, an dem es um den Körper und seine Pflege als fleischlich-bedürftig-vergänglichen mit seinen Aus- und Abscheidungen ginge. In den Spiegelwänden solch‘ neosakraler Zonen erfährt sich der in verschwitzter morgendlicher Verschlafenheit oder abendlich mürben Erschöpfung verstimmte und daher etwas gottverlassene Mensch zu seiner eigenen Überraschung zum Priester erhoben, der einen neuen Gott in demselben Akt zugleich erschafft und ihm huldigt: in der Liturgie täglicher Toilette als beständige Arbeit am makellosen „Auferstehungskörper“ (s.u.) nämlich. Am „Auferstehungskörper“ oder „verklärten Leib“ nun erinnert nichts mehr an seinen erbärmlichen Ursprung als geborenes, „natürliches“ Fleisch. Wir religiös Durchdesillusionierte müssen also zu unserem Erstaunen plötzlich feststellen: Bodybuilding ist heimliches oder gar verdrängtes „Godybuilding“.[76] Ganz psychoanalytisch finden wir hier eine Vergöttlichung des Fleisches vor als Abwehr seiner erschreckenden Materialität mittels der bereits erwähnten forcierten Reaktionsbildung. Und zwar gegen die unvermeidbare Erfahrung, dass Individuation/Inkarnation, Leben also, ohne die Kränkungen durch das Fleisch unmöglich ist: entweder – oder. Das Phantasma vom Auferstehungskörper nun scheint dabei überhaupt die bis jetzt resistenteste aller Heils-Illusionen zu sein, denn im „kollektiven Imaginären“ und als das “kollektive Imaginäre” überlebt es als Heilsversprechen seit Jahrtausenden allen politisch-gesellschaftlichen Wandel und alle religiösen und ideologischen Differenzen. Es erfährt in den sich ablösenden Epochen immer nur ein zeitentsprechendes “Update”.
b) „Säkulare Supplemente von Religiosität“ unterströmen die Moderne.
Die Kulturwissenschaftlerin Christina von Braun führt in ihren Arbeiten zur Beschreibung unbewusst wirkender religiöser Triebkräfte in einer Gesellschaft den auf Lacan zurückgehenden Begriff des „kollektiven Imaginären“ ein. [77] Das „kollektive Imaginäre“, so schreibt sie, konstituiert sich aus „historisch wandelbaren Leitbildern“ und Idealentwürfen einer Epoche, die von einer Kultur zugleich hervorgebracht wurden und ihre Entwicklungsrichtung bestimmen. Diese Leitbilder sind abzugrenzen von den Jung´schen Archetypen, die unveränderlich bleiben und dem „kollektiven Unbewussten“, in das die Traditionen und Traumata des Kollektivs eingeschrieben sind. Sie entsprechen eher dem, was Walter Benjamin „Wunschbilder“ nannte, Bilder, die „einer bestimmten Zeit angehören“ und die [später] „erst in einer bestimmten [anderen] Zeit zur Lesbarkeit kommen“. Diese als solche also zunächst nicht erkennbaren Leitbilder transportieren eine Heilsbotschaft zur Aufhebung menschlicher Versehrtheit und Vergänglichkeit, die auf Erfüllung im Diesseits ausgerichtet ist. Eine Heilsbotschaft, die also die Tatsache der Unmöglichkeit von Erlösung unter der Bedingung individueller Existenz im Fleische, dem Leben also, zu verleugnen versucht. Das „kollektive Imaginäre“ ist dabei nicht identisch mit Religion, da unter diese Kategorie nach C. v. Braun auch der jüdische Glaube fiele, der eine diesseitige Heilserfüllung nicht kenne und die Versehrtheit und Versehrbarkeit nicht verleugne, sondern rituell einübe. Das kollektive Imaginäre basiert auch nicht, wie die totalitären „politischen Religionen“, auf einer expliziten Heilsbotschaft, gepaart mit dadurch legitimierter Gewalt, welche deren primäres Verwirklichungsmittel darstellt, sondern auf den Prinzipien der Faszination und Verführung, also der Indienstnahme der Anziehung bzw. der menschlichen Fähigkeit zu „erotischer Anamnesis“. Der imaginäre Charakter der Leitbilder wird von der Kultur nicht wahrgenommen, sondern sie werden als Wirklichkeit begriffen und nur solange wirken die Imaginationen. Man ist aus medizinischer Sicht hier versucht, etwas simplifizierend von einem kollektiven, kulturellen „Placeboeffekt“ zu sprechen.[78]
Diese „Bilder“ nun versuchen nach C. v. Braun, dem Kollektiv mit Hilfe von Analogien zum Individualkörper den Charakter von Geschlossenheit zuzuweisen und dadurch die Versehrbarkeit des Individualkörpers aufzuheben. Dies ließe sich auf folgende Weise verstehen: durch die am Kollektiv geschaffene Illusion, das „heile, ganze Eine“ zu sein, tritt das Kollektiv, das nicht länger als „in Individuen zerstückelt“ erscheint, unbewusst für die vereinzelten Individuen an die Stelle Gottes. Als etwas fortan „Übergroßes“, „Geheimnisvolles“, darin vielleicht gar „Schauervolles“ weckt das auf diese Weise aufbereitete Kollektiv bei den es bildenden Einzelnen durch seine Analogie zur Ehrfurcht gebietenden und Anbetung erfordernden majestas Gottes Empfindungen von etwas „Heiligem“ in eben der Weise, wie sie von Rudolf Otto phänomenologisch aufgewiesen wurden.[79] Der Nationalismus konnte also das Erbe der Religion antreten, weil er sie als bindende Kraft der Gemeinschaft aus dem allgemeinen Bewusstsein zu verdrängen – und dies war durchaus auch ein notwendiger Akt der Befreiung von allzu einengender Bindung – und sie zugleich unbewusst zu bewahren vermochte, indem er der konstant anthropologischen spirituellen Suche auf unbewusster Ebene sich erfolgreich als ein geeignetes Gottessubstitut anzubieten vermochte. Damit Kollektive auf diese Weise als „geschlossene“ erfahren werden können, bedürfen sie nach C. v. Braun – auch dies an Stelle und als Ersatz des verlorenen Gottes als dem „ganz Anderen“– eines kollektiven Gegenbildes, das das Bild vom eigenen Kollektiv als geschlossenes konstituiert. Die ursprüngliche „Großerfahrung von Geschlossenheit“ als primärer Narzissmus aller Individuen hat für ihr regressives Wiedererscheinen als „purifiziertes Lust-Ich“ den projektiven Ausschluss der Indikatoren eigener Zerstückelung, die „Natalitätsaffekte“[80] Isolation, Schwäche, Versehrtsein, Bedürftigsein auf kollektiver Ebene zur Voraussetzung: „Wir sind die Nur-Guten, die Nur-Starken und Immer-Makellosen, denn siehe, es sind die anderen, die schlecht, böse, minderwertig, schwach und versehrt sind, nicht wir“, um schließlich auf individueller Ebene das ersehnte, erlösende religiöse Erlebnis in den Einzelnen des Kollektivs zu erwecken.
Der aktuelle Versuch nun der vollständigen Selbst-Naturalisierung des Menschen durch die okzidentalen Wissenschaften ließe sich als ein Wirkeffekt des kollektiven Imaginären verstehen, wo die „massenbildende“ Geschlossenheit des naturwissenschaftlichen Weltbildes[81] über eine zunehmende, von mehr und mehr offener Geringschätzung getragene institutionelle Ausgrenzung von phänomenologischer Philosophie, hermeneutischer Psychologie und Psychoanalyse aus den Universitäten und aus dem Nachdenken über die menschliche Natur überhaupt erfolgt. Selbst die Psychoanalyse sucht länger schon ihr Heil in der Nähe zu den Neurowissenschaften und restauriert darin ihr „szientistisches Selbstmissverständnis“. Sie ergibt sich zunehmend in die Reduktion „innerer Erfahrung“ bzw. „psychischer Realität“ auf Gehirnprozesse durch die Neurobiologie. Deren zur Verkündung ihrer Botschaft eigene Priesterkaste neigt die Psychoanalyse lange schon eher zu huldigen als sie und ihre Botschaften zu „analysieren“. Der Mensch des 21. Jahrhunderts will sich als bloße Natur, d.h. reine Materie mit den in ihr herrschenden Kräften sehen, weil dies sehr handfest zukünftige Erlösung durch anthropotechnische Modifikation und Verbesserung dieser Natur verheißt.[82] Eine Verheißung, die dann nicht länger Frage eines wesenhaft zu Zweifeln neigenden Glaubens mehr ist, sondern eine des sicheren Gangs des menschlichen Fortschritts. Alles Denken, das fortan diesen Selbstreinigungsprozess infrage stellt – und dazu zählen heute Philosophie und Psychoanalyse ebenso wie die alternativen Heilverfahren oder auch die Anthroposophie – wird zur Aufrichtung des Geschlossenheit generierenden Gegenbildes als „Desinformation verbreitend“ und als „wissenschafts- und fortschrittsfeindlich“ ausgegrenzt und möglicherweise bald sogar bestraft. Ihre öffentlichen Vertreter werden in verzerrter Darstellung zu Un(ter)menschen. Die Duldung heterogener, sozusagen „zerstückelter“ Diskurse dagegen, in deren Gegebenheit allein schon sich die unaufhebbare Unvollkommenheit menschlichen Wissens spiegeln würde und die auszuhalten wäre – und wofür die in ihrer Anlage dissidente Wissenschaft der Psychoanalyse zuallererst zu plädieren hätte – ist einer sich mehr oder weniger gewaltsam durchsetzenden Einheitswissenschaft in einer Art Selbstgleichschaltung der Universitäten und des Wissenschaftsjournalismus als einzigem Weg zum „Heil“ gewichen. Wer sich heute darin als „WissenschaftlerIn“ auszuweisen vermag und Anerkennung findet, steht nicht länger in der Gefahr, in den Fokus medialer oder staatlicher Verfolgung zu geraten und ist damit für seine/ihre Karriere aus dem Schneider. „Hail Science"! Die Andersdenkenden bilden dagegen eine gänzlich neue wie inhomogene hässliche Rasse fehlgeleiteter „Gläubiger“, irrationaler „Schwurbler“, dummer irrender Verirrter oder gar bösartiger und gefährlicher „Verschwörungsideologen“. Diese Figuren des hässlichen, abstoßenden, dummen und gefährlichen Anderen treten heute mehr und mehr an die Stelle „des Juden“ und „der Frau“ als Gegenbild zu einem „universellen Subjekt“ im zwanzigsten Jahrhundert, so wie C. v. Braun dies in ihrem Entwurf zum kollektiven Imaginären herausgearbeitet hatte. (s.u.)
Die Aufrechterhaltung der Gegensätze, der Vielfalt von wissenschaftlichen Gegenstandstypen, ihre Unvereinbarkeiten ist aber exakt das, was Wissenschaft in ihrem Wesenskern eigentlich ausmacht, und was nach Meinung von P. Sloterdijk bspw. die Arbeit von Jaques Derrida charakterisiert:
„Derrida lässt die unlösbaren Antinomien im Realen bestehen und denkt auf ihren Bahnen ein Stück weiter, parallel, ohne dass sie sich schneiden oder eine Synthese bildeten.“[83]
Einen solchen Pluralismus von Paradigmen zu tolerieren, was ja immer auch ein Aushalten ist, ist etwas Unzeitgemäßes geworden. Nun kann man aus psychoanalytischer Sicht den Drang zur akzelerierenden Homogenisierung von Wissen als psychische Abwehr verstehen. In einem nächsten Schritt könnte man vermuten, dass sich darin die Erschöpfung der über das „größtmögliche Glück für eine größtmögliche Zahl“ begründenden Versprechen der säkularen Gesellschaft der Fortschrittsgläubigen bemerkbar macht. Derzeit wird noch mehr geahnt als bewusst bemerkt, dass das Unglück sich nicht nur nicht abschaffen ließ, sondern vielmehr die in der Währung gerade des Unglücks explodierenden Kosten für das utilitaristische Glücksversprechen psychologisch, demographisch, ökonomisch, ökologisch und spirituell allmählich eine schwerlich länger zu ignorierende Last geworden sind. Aber man macht erst einmal weiter wie bei der Corona-Impfung: Sie wirkt nicht und ist daher gar keine Impfung? Dann erst recht nochmal und nochmal und … Man hat verlernt, um der Wahrheit willen Paradigmen, wo erforderlich, aufzugeben und/oder zu wechseln oder eben, wie Derrida, zugleich und parallel in ihnen zu denken. Denn all das besäße als eine psychologische Grundvoraussetzung die Fähigkeit zur Toleranz für den eigenen Mangel und die eigene Versehrbarkeit. Wachsende Wissenschaftsgläubigkeit als aggressiver Fundamentalismus ist ein verzweifelter Versuch letzter Rettung von Resten religiöser Ordnung vor der drohenden endgültigen Überwältigung durch einen irrationalen und amoralischen Nihilismus, wie Emmanuel Todd ihn aufziehen und das Geschehen im Okzident zunehmend bestimmen sieht. Dieser Nihilismus könnte eine seiner Ursachen in der Hilflosigkeit gegenüber den „Tatsachen des Fleisches“ finden, die wiederum ihren Grund im völligen Untergang von individueller Spiritualität und von gelingender kollektiver hätte. Mit seinem Fleisch wird der Mensch ohne Gott nicht fertig.
Die Konstitution der postchristlichen abendländischen Gesellschaft brachte es mit sich, so beschreibt es C. v. Braun, als das Gegenbild zum „universellen Subjekt“ (welches der Mensch im homogenisierten Kollektiv ist an der Stelle Gottes) „die Frau“ und „den Juden“ zu erschaffen (als Ersatz für das „ganz Andere“ Gottes), denen jene abgespaltene Verletzlichkeit, Versehrbarkeit und Mangelhaftigkeit zugeordnet wurde, vom dem sich das universelle Subjekt im Sinne eines in einer Selbstvervollkommnung liegenden diesseitigen Heilsanspruchs befreien wollte. Bisweilen neu aufblitzende heutige „Gegenbilder“ sind zwar „die Terroristen“, „die Islamisten“, „die Sexualstraftäter“, neuerdings „die Russen“ und durch einen „informations-bioterroristischen“ [84] Angriff der angloamerikanischen ruling class auf die Bevölkerungen der Welt „die Corona-Leugner“, die „Querdenker“, für andere aber wiederum „die Corona-Gläubigen“ etc. Nun dürften allerdings die Erfahrungen mit dem deutschen Faschismus eine gänzliche Freigabe von leibhaftigen Menschen(gruppen) als Gegenbild zur Konstituierung der Geschlossenheit eines Kollektivs weiterhin noch für einige Zeit erheblich erschweren. Dies wird möglicherweise erkennbar am hohen propagandistischen Aufwand in den offenbar stark von britischen und amerikanischen Geheimdiensten gesteuerten[85] westlichen Leitmedien, der diese aktuellen Gegenbilder frisch halten muss. Daran gemessen ließe sich unterstellen, dass sich die im Nationalismus und in den politischen Religionen noch für die Massen hoffnungsgenerierenden Effekte begonnen haben, sich abzunutzen und zu erschöpfen. Offene Verfolgung, Internierung und Tötung sind noch außer Reichweite, obwohl Corona sie vorübergehend durchaus wieder konsensfähiger erscheinen ließ. Der heutige Kampf gegen Versehrbarkeit scheint sich daher zunächst mehr und mehr direkt auf das Andere im Körper und damit letztlich auf das Fleisch, das wir je sind, verschoben zu haben.
c) „Defeat Depression“.
Dies beispielsweise in Gestalt der „Depression“, die in ihren wissenschaftlichen Konzeptualisierungen die Konnotationen der Versehrbarkeit enthält und die daher eine zeitgemäße und politisch korrekte Alternative als Gegenbild zum universellen Subjekt bietet. Man müsste einmal genauer die Diskurse befragen, wie sie über Depression sprechen, welche Bilder in ihr zu Wort kommen und ob diese Bilder eine Ähnlichkeit mit den Bildern des rassistischen Antisemitismus oder der Misogynie enthalten. Auf diese Weise wurde, wie hier vermutet wird, das konstitutive Gegenbild zu den Heilsphantasmen der imaginären Leitbilder von außen nach innen verlegt: als nun pathophysiologisch objektivierbare Krankheitsentität oder Behinderung in den Individuen. Der Feind sitzt nun im Fleisch des Individuums und muss dort auf der Ebene seiner Materialität bekämpft werden. „Hässlichkeit“, „Leiden“ und „Alter“ werden daher allesamt als Krankheit begriffen und es gibt bereits eine politische Partei, die dies zu ihrem Programm gemacht hat.[86] Die Indikatoren eigener Zerstückelung, die erwähnten „Natalitätsaffekte“ des Isolierten, Schwachen, Versehrten, Bedürftigen werden also nicht nur auf andere projiziert wie auf „die Frau, v.a. als alternde“ und „den hässlichen Juden“ oder den „rechten Verschwörungsideologen“ zur Erschaffung eines Geschlossenheit konstituierenden Gegenbildes. Das Gegenbild des Fremden/Anderen/Heterogenen wird also zunehmend im Inneren der Individuen verortet und bildet dort das „Andere im Ich“. Objektiv ist dieses Heterogene natürlich in der hier eingenommenen Perspektive die stets widerfahrensgefährdete Elendsseite der Fleischlichkeit und man könnte gar in dieser Bewegung von „außen nach innen“, „vom Anderen/Fremden im Außen zum Anderen/Fremden in mir“ einen sich andeutenden Erkenntnisfortschritt sehen, der allmählich das Obskure des Fleisches im Körper zu überwinden scheint. Aber wir sahen bereits: Das Fleisch selbst wird zum letzten Mittel seiner Abwehr und verbirgt sich in dem Maße, wie es sich durch seine rücksichtslose Entblößung und Eröffnung in Wissenschaft und Kunst scheinbar zeigen muss.[87]
Sehr deutlich führt uns der sich aufblähende medizinische Apparat und die Autorität, mit der er sein neues, anstelle der Würde grundlegendes Menschenrecht verkündet: „Die Gesundheit des Menschen ist unantastbar“, vor Augen, dass die Geschlossenheit des Kollektivs heute im Gegensatz zu den von C. v. Braun beschriebenen Verhältnissen im 20. Jahrhundert nicht länger allein durch die Vorstellung, dass bestimmte Individuen oder Gruppen „anders“ sind und damit den Mangel repräsentierten gesichert wird. Sondern dass es jene Hässlichkeit, Mangelhaftigkeit und das Altern sind, die auf einmal als etwas Krankhaftes wie die eigentlichen Krankheiten zu sein scheinen, die zu bekämpfen das Kollektiv vereint. Und diese Mangelhaftigkeit ist natürlich in einer jeden und einem jeden auffindbar, wenn man lange genug danach sucht oder Normgrößen entsprechend einrichtet. Darin wird dieser medizinische Apparat neuerdings zudem durch sehr wahrscheinlich von ihm selbst geschaffene künstliche Erreger und künstliche Krankheiten unterstützt. Das Fremde wird also nicht länger durch eine Rasse oder ein Geschlecht, als äußeres Gegenbild repräsentiert, sondern es „sitzt“ in jedem selbst, es ist tief im Fleische als sein Wesen verankert. Aber als etwas, das, wenn es einen heimsucht und befällt – ein ganzes Genre von Bio-Horrorfilmen lebt davon – dank der nüchternen Wissenschaften, chirurgisch, biochemisch, gentherapeutisch, eugenisch bekämpft, herausgeschnitten und für alle Zukunft ausgemerzt und durch den Transhumanismus einer unendlichen wesensverändernden Perfektibilität zugeführt werden kann. So in etwa ließe sich das “unlesbare” Heilsversprechen im kollektiven Imaginären heute, die aktuelle Gestalt der den Säkularismus unterströmenden “Religiosität” vorstellen. Versehrbarkeit wird zum rein dinglichen Geschehen, bei Depression bspw. zu einer Stoff-Wechsel-Störung im Gehirn, und es geht fortan nur noch darum, den falschen Stoff durch den richtigen auszuwechseln. Es ist nicht länger der Mensch in seinem Wesen depressiv, weil das mit seinem Dasein verbundene naturnotwendig metaphysische Leiden ihn bedrückt. Er sieht seine Erlösungschance, ohne dazu sterben zu müssen, fortan darin, dass er nun ohne Gottes Hilfe den vom Christentum versprochenen „Wiederauferstehungs-körper“, der lebendige Individuation ohne die Demütigung durch Inkarnation ermöglicht, technisch selbst herstellen können wird. Mehr dazu im Folgenden.
Auch hier also ein Gegenbild, als Bedingung für das Erleben von Geschlossenheit des Kollektivs als Mittel zur illusionären Generierung eigener Unversehrtheit: unsere Depressiven leiden nicht an sich und somit an ihrem fleischlichen Dasein oder an einem Kollektiv, das hier keinen Trost, sondern nur Verschiebungen des Leidens zu bieten hat, sondern sie sind im Grunde bereits vollkommen, zumindest „perfektibel“ wie dieses, aber von einer „Materiestörung“ befallen, die sich nun grundsätzlich wissenschaftlich „hacken“ und damit ausmerzen lässt. An die Stelle der geeinten Nation oder davor Glaubensgemeinschaft tritt heute zunehmend die Einheit der pharmakologisch und chirurgisch-operativ technisch Gestärkten, Gesundeten, Verschönerten und unsterblich Gemachten[88], deren Erschaffung als nächsten Schritt der Evolution durch die Eugenik und den Transhumanismus in der „Vierten Industriellen Revolution“ projektiert werden. Diese fleischverdrängende unbewusste Heilsvorstellung von einer vollkommenen Unversehrtheit im Diesseits wird also aktuell durch eine paradoxe besondere Inanspruchnahme des Fleisches als Hoffnungsträger gerettet. Wie wird von Volker Demuth bereits erfuhren: im Menschenfleisch [liegt]die wirkliche Keimzelle [heutiger] Glücksforderungen und Freiheitswünsche [Klammern SW, siehe auch Endnote 64]. Gibt es hier nicht auch eine Wiederkehr des Ur-Verdrängten in einer Annäherung an das Wesen des Fleisches? Ja und nein, denn die unverkennbare Bewegung auf das Fleisch zu oder sein auf-uns- Zukommen stärkt zugleich die Abwehr. Denn je näher man jenem kommt, umso mehr wird diese, bleibt sie als solche unerkannt, zu einer immer kompromissloseren und vermag in der Wirklichkeit die monströsesten Beeinflussungsapparate zur Eskamotierung der Wahrheit zu erschaffen.
So vielleicht ist die Prozac-Euphorie der 90iger Jahre zu erklären, wo es sich doch schon vor längerer Zeit zeigte, dass bei Fluoxetin u.U. nichts weiteres als ein „enhanced placebo effect“ die erlebten und gemessenen Wirkungen dieses Medikamentes erklärt.[89] Es wurde deutlich, dass die Wirkung davon abhängt, dass die Wirkpotenz eines Mittels vom Nutzer für „real“ gehalten wird. Dieser „Wahrheitseffekt“ aber wird durch kulturelle Praktiken der Wissenschaften, der Politik oder der Herstellung von öffentlicher Meinung konstituiert. Es handelt sich um die Produktion eines säkularen Glaubens: der „wissenschaftlichen Wahrheit“ und die davon abgeleiteten weiteren physiologischen, psychologischen oder soziologischen „Realitäten“ erst schafft.[90] Sehr erhellend sind die Forschungen zur generellen Effektivität von Antidepressiva.[91] Auch hier finden sich viele Anhaltspunkte dafür, dass sich die beobachtbare und erlebbare Wirkung der Antidepressiva unter Umständen generell einem „enhanced placebo effect“ verdankt und somit kaum mehr wäre als ein kollektiv produziertes wissenschaftsmethodisches Artefakt – die einen liefern die Wahrheit, die anderen beauftragen sie damit und glauben an ihre Ergebnisse im Kontext eines kollektiven Phantasmas einer „Überwindung des Fleisches“ in Gestalt der Depression. An wissenschaftlicher Objektivität und der Evidenz subjektiven Erlebens ließe sich also ein „Wahrheits- oder Wirklichkeitseffekt“ herauspräparieren, der weniger mit tatsächlichen Realitäten als mit wunschbestimmten kollektiven Wahrnehmungsmustern und kulturimmanenten Produktionsformen von „Wirklichkeit“ in Zusammenhang stünde, in denen unbewusste Heilsvorstellungen, d.h. spirituelle Sehnsüchte aller der zentrale Antrieb sind, ohne dass sich dies zwingend in Gestalt einer religiösen Praxis zeigen muss. Subjektivität und Objektivität wären unter einem solchen Blickwinkel im Gegensatz zur üblichen Wertehierarchie auf einer gemeinsamen logischen Ebene angesiedelte Erscheinungsformen kollektiven „Phantasmierens“. Das Phantasma wird im Gegensatz zur Phantasie nicht als Vorstellung, sondern als Realität begriffen, es zählt zum „kollektiven Imaginären“. Das von fast allen gesellschaftlichen Gruppen geteilte, nicht reflexiv einholbare und je kulturspezifische Phantasma von Heil könnte als das „verborgene Motiv“ für die immer wieder überraschende Einigkeit der verschiedensten Interessengruppen hinsichtlich der Wirksamkeit der Antidepressiva angesehen werden. Die „heterogenen“, die den Glauben „störenden“ und unerwünschte Zweifel säenden Befunde im „antidepressiven Diskurs“ muss man mühevoll aus einem riesigen Korpus der Veröffentlichungen wie ein Archäologe geradezu ausgraben. Die Einbettung der Entwicklung der Psychopharmakologie in einen vielschichtigen wissenschaftlichen, ökonomischen[92], politischen und kulturellen Prozess zu untersuchen, der sich nicht allein bewusster Fortschrittsanstrengung und dem Erfindungsgeist der wissenschaftlichen Pioniere[93], sondern in weitaus höherem Maße unbewussten kollektiven Wunsch- und Wirkkräften verdankt, wäre ein interessantes Forschungsthema. Die Annäherung an eine solche Fragestellung allerdings macht natürlich die Anwendung eines den Naturwissenschaftsdiskurs transzendierendes Untersuchungsinstrumentarium erforderlich. Sie könnte unter Rückgriff auf analytische Kategorien aus den Kulturwissenschaften in Eröffnung auf einen religionssoziologischen Diskurs ein Stück weit unternommen werden. „Wahrheitseffekte“ oder das Erleben von etwas als „Wirklichkeit“ (was wiederum sekundäre soziale „Realitäten“ schafft, beschrieben z.B. im sog. „Thomas-Theorem[94]“), sozusagen „kollektive Plazebo-Effekte“, könnten dabei thematisch im Zentrum stehen und mittels begrifflicher Instrumente wie bspw. dem Begriff des „kollektiven Imaginären“ untersucht werden. Vielleicht ließe sich die Prozedur des RCT (randomized controlled trial) als eine Form säkularisierter „Konsekration“, sowie die kollektive Medikamenten- und Plazebo-Einnahme und ihre Wirkungen als säkulare Formen von „Kommunion“ durch den gemeinsamen Verzehr des eingeheiligten Opfers (das in der Antike der „pharmakos“ war), Stiftung von Gemeinschaft als Bannung von Versehrbarkeit und Todesbedrohung etc. – darstellen (im Englischen meint bspw. das Verb „to administer“ nicht nur „Verabreichung von Arznei“, sondern auch ein „Sakrament spenden“). Aus einer solchen Perspektive wäre „die Plazebowirkung“ allgemein und der „enhanced placebo effect“ im Besonderen als artifizieller Effekt wissenschaftlicher Prozeduren ein Resultat ritueller Schaffung von Bedeutung[95] im Kontext einer phantasmierten Matrix säkularer Heilsvorstellungen und als Schlüsselfunktion unspezifischer medizinischer Wirksamkeit schlechthin auszumachen.[96] Deren Verhältnis zu den spezifischen Wirkungen[97] wäre schließlich zu gewichten und ihre Niederlage als therapeutisches Prinzip gegenüber dem Spezifitätsgedanken[98] mit seiner offenbar größeren „Verheißungspotenz“ einsehbar zu machen.
V. Abschließende carneologische Meditationen zu „Reinheit“, „Fleisch“, „Schwein“ und „Weib“
a) Reinsein
Die Angst der Menschen vor einem mit Schmutz und Ekel assoziierten Urzustand der Unreinheit, der unheimliche Schrecken einer drohenden inneren Erfahrung des rohen „a-sozialen“ Kerns des Fleisches, zeigt sich im Zuge der Regression in Analysen bspw. häufig als etwas „ungeheuer“ Beunruhigendes, als die Angst vor dem absoluten sozialen Statusverlust: „in Hartz IV abzustürzen“, „unter der Brücke“ oder nicht länger bei Sinnen und handlungsgelähmt fixiert in einem Psychiatriebett „zu landen“, vollständig mittellos zu sein u.ä. Dies lässt den Gedanken aufkommen, dass der Begriff der „Reinheit“[99] überhaupt und ursprünglich immer schon in Opposition zum Fleisch als quasi „nativer Unreinheit“ stehen könnte, ohne dass dies den Handelnden bewusst und damit aussprechbar wäre. „Reinheit“ wäre gewissermaßen die „reparative Urphantasie“ von einem „dekarnifizierten“ Idealzustand, die aus den dunklen Ahnungen der Verfasstheit des Fleisches notwendig hervorgeht und zu ihrer Konstitution auf Erlebnisqualitäten zurückgreift, die erotischer Anamesis entstammen. Die also, halluzinatorisch in Gegenbildern zum „Schock durch das Fleisch“ geweckt, geeignet sind, die gewaltige carneologische Not tatsächlich zu wenden. Die „reparative Urphantasie“ von Reinheit ist gewissermaßen die Urspur der zuvor beschriebenen Heilsphantasmen des kollektiven Imaginären. Die eigentliche „Opposition“ zu Reinheit verbleibt im bloßen Wort „Unreinheit“ daher im Dunkel und erscheint nur indirekt in jenem obsessiven, infinitesimalen Antrieb, von dem Reinheitsbemühungen im Umgang mit dem Dreck im Realen wesenhaft bestimmt sind. Denn bewusstes Streben nach Sauberkeit und die darin wirksam werdenden „Reinheitsphantasien“ zielen unbewusst am Ende immer auf das Unmögliche: das Phantasma eines Daseins ohne die Demütigung durch das Fleisch, ohne seinen Dreck, ohne seine Versehrbarkeit und ohne seine Bedürftigkeit. Eine reale Annäherung an dieses „Absolute“ verspricht daher nur die exzessive Wiederholung und eine sich im Unendlichen verlierende Detailversessenheit. Aber keine noch so perfektionierte Ordnung und kein noch so raffiniert-vollendeter Sauberkeitszustand vermag an das heranzureichen, was eigentlich erstrebt ist: die Befreiung von den Zumutungen durch das Fleisch, das man je ist und bleibt, solange man lebt und putzt. Die Gefahr der Unreinheit überschattet also notwendig lebenslang jede menschliche Existenz und ist jederzeit aktualisierungsvulnerabel.
„Reinheit“ kann also als ein ubiquitäres, weil aus der besonderen Fleischlichkeit des Menschen als physiologische Frühgeburt erwachsenes, d.h. kulturübergreifend auffindbares reparatives Phantasma verstanden werden, weil „Unreinheit“ auf der Ebene des Individuums, sozusagen „mikroskopisch“, eine ubiquitäre, kulturübergreifende natalitätsbedingte Primärerfahrung ist. Sie wird „makroskopisch“ umso virulenter, je mehr Individuen einer Gemeinschaft ohne Chance sind, sich „ausreichend gut“ aus ihrem Fleisch zu erheben, ohne es zugleich zu verleugnen. Der Versuch jedes Kollektivs einer Bändigung dieser Bedrohung aus dem Fleisch seiner Individuen zeigt sich neben allen kulturspezifischen Kultivierungs- und Disziplinierungsbemühungen bspw. früh schon in der bronzezeitlichen Erfindung des blutigen Opferrituals als Folge globaler Traumatisierung[100] oder in den kollektiven Phantasiebildungen und Diskursen zum Topos der Figur des Asozialen. Der zwar historisch kontingent definierte, aber dennoch um einen überhistorisch „carneologischen“ Bedeutungskern kreisende real existierende Asoziale ist Symbol und Projektionsziel für jene unbewusste A-Sozialität, die im wahrsten Sinne des Wortes als „natürliche“ unheimlich und unbezähmbar in den Fasern des Fleisches eines jeden haust. Wesentliche Triebkraft also auch des Sündenbockphänomens in allen menschlichen Gruppen: der Sündenbock ist der Mensch, der die „Unreinheiten“ aller auf sich vereinigt. Die Rassismen und Degenerationstheorien[101] des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts[102] versuchten als „Überbau“, die „basale Bombe der Asozialität“ in allem Fleisch – zu ihrer Entstehungszeit wesentlich durch die allgemeine Hyperfertilität[103] entscheidend mitgeschaffene soziale Frage mit Häufung von „Lebensuntauglichen“[104] zusätzlich scharf gemacht – ins Fleisch des Anderen projiziert und zur wissenschaftlichen Tatsache neutralisiert eugenisch zu entschärfen. Durch die Definition deformierter und dysfunktionaler Körper und Seelen als „Degeneration bestimmter Fleischzuchtlinien“[105] schien das je eigene Unreine plötzlich einer endgültigen Überwindung „am Anderen“ durch dessen vollständige physische Ausmerze zugänglich und damit die Utopie eines „reinen Fleisches“ postchristlich (sozial-) technisch machbar zu sein. Diese Utopie hat auch nach dem zweiten Weltkrieg nicht aufgehört, die sog. „Power-Eliten“ der Demokratien und deren wissenschaftliches Umfeld weiterhin ernsthaft zu beschäftigen.[106]
Das nun durch „Operationen direkt am Fleisch“ – bspw. durch eugenische Maßnahmen (Sterilisation, Zucht, Euthanasie) – gereinigte Fleisch“ ist eine uralte Utopie. Seine heutigen Formen sind allerdings schon durch den christlichen Auferstehungskörper vorgezeichnet. Diesen makellosen Körper beschreibt die Theologin Theresia Heimerl als
„alterslos […], frei von allen Gebrechen, immerwährend im besten Alter (33, sagt Augustinus), dem herrschenden Schönheitsideal entsprechend (weder zu dünn noch zu dick, die Männer mit Bart, sagt wiederum Augustinus). Ein Körper, der ohne alle ungebührlichen Regungen und Ausscheidungen auskommt, der daher auch keine materielle Nahrung mehr braucht. Ein Körper, der uns in allem und jedem gehorcht, weder Hunger noch Durst noch sexuelle Begierde kennt.“ [107]
Hier findet sich ein immer wieder modernisierter, bis in unsere Gegenwart wirkmächtiger anthropologischer Fundamentalismus der Selbstüberwindung: das Streben nämlich, das „a-soziale Fleisch“ – oft als Missgeburt (als Ausgeburt der Hässlichkeit des Fleisches), als Ungeziefer (zahllos, hyperfertil, parasitär, abstoßend, zersetzend) oder als Geschwür (wuchernd, verzehrend, destruierend) – aus dem Volkskörper herausschneiden zu können – in postfaschistischer Zeit bevorzugt durch Bodybuilding und Schönheitschirurgie und durchaus auch mittels resozialisierender Therapeutik sowie zunehmend im aktuellen Diskurs des Transhumanismus durch eine Digitalisierung menschlicher Biologie[108] und durch anderweitig klandestine neo-eugenische Projekte.[109] Hier wurde und wird eine intensiv wahrgenommene, aber in ihrem „carneologischen“ Kern unbewusst bleibende, unheimliche Drohung einzudämmen versucht. Diese besteht in einem Konglomerat aus der Angst vor dem einerseits erbärmlichkeitsgefährdeten und andererseits bestialitätsbereiten Fleisch der entwürdigten niederen Massen einerseits und der „niederen Masse“ des eigenen Fleisches andererseits. Eine über lange Zeit überbordende Drohung zumal, da der Volkskörper infolge überbordender Geburtenraten der vergangenen Jahrhunderte eben überbordende fleischliche Wucherungen an Zahl und Verwahrlosung aufwies[110] – denen ja auch so mancher Degenerations- und Rassetheoretiker (sowie u.a. auch die Gründer der Psychoanalyse) mit ihren eigenen „dunklen Ahnentafeln“ entstammten. Wie diese Suche nach Reinheit und Elevation im Bürgertum begann, beschreibt Michel Foucault:
„Vom Adel verwendete Verfahren zur Markierung und Wahrung seines Standesunterschiedes wurden [von der Bourgeoisie SW] übernommen und in andere Formen übersetzt. Denn auch die Aristokratie hatte die Eigenart ihres Körpers behauptet; dies geschah in der Form des Blutes, d.h. des Alters der Aszendenzen und des Wertes der Allianzen. Die Bourgeoisie hingegen sah, um sich einen Körper zu geben, auf ihre Deszendenz und auf die Gesundheit ihres Organismus. Das »Blut« der Bourgeoisie war ihr Sex. Das ist kein Wortspiel – viele Elemente der adeligen Standeswahrung finden sich im Bürgertum des 19. Jahrhunderts wieder: hier allerdings als biologische, medizinische oder eugenische Vorschriften. Aus der Sorge um den Stammbaum wurde die Besorgnis um die Vererbung. Bei Heiraten achtete man nicht nur auf ökonomische Imperative und die Regeln der sozialen Homogenität, nicht nur auf die Aussichten der Erbschaft, sondern auf die Gefahren der Vererbung. Die bürgerlichen Familien führten und verbargen eine umgekehrte und dunkle Ahnentafel, deren beschämende »Adelstitel« die Krankheiten oder Belastungen der Verwandtschaft waren: die progressive Paralyse des Großvaters, die Nervenschwäche der Mutter, die Schwindsucht des Schwesterchens, die hysterischen oder liebestollen Tanten, die Vettern mit dem schlechten Lebenswandel. Aber in dieser Besorgnis um den sexuellen Körper hat das Bürgertum nicht nur Themen aus der Welt des Adels zu Zwecken seiner Selbstbehauptung umgesetzt. Es ging darüber hinaus um eine unbeschränkte Ausweitung der Kraft, der Stärke, der Gesundheit, des Lebens.“[111]
b) Ein „demographisches Trauma“: Unreinheit als Kernselbsterfahrung des Massenmenschen
Bisweilen nun scheint es, als ließe sich in Psychoanalysen mit dafür geschärftem Ohr das Hintergrundecho des big bang eines „kollektiven demographischen Traumas“ noch heute vernehmen. Eines Bevölkerungstraumas, das sich aktuell in Afrika und im islamischen Kulturkreis wiederholt und erneut Massen von zerstückelungsbereit erlösungsbedürftigem „Fleisch“ ausbrütet. Diese vielleicht etwas drastische Formulierung ist dabei keineswegs despektierlich oder gar rassistisch motiviert, sondern will auf einen gefährlichen und unterschätzten Tatbestand hinweisen: dass nämlich unter der Bedingung der Zeugung sehr vieler Menschen[112] innerhalb der Familien und später hinsichtlich der Heirats- und Karrierechancen vor allem unter den männlichen Nachkommen ein so extremer Konkurrenzdruck geschaffen wird, dass es zu einer erhöhten Wahrscheinlichkeit „bestialischer Übersprungshandlungen“ kommt, die empirisch durch unerklärliche und explosionsartige Grausamkeit und Bluträusche bestimmt sind. Sie können auch zunächst als geheime „Übersprungsphantasien“ in eine politisch instrumentalisierbare Radikalisierung[113] größerer Teile v.a. der männlichen Jugend führen. Man denke hier an die gewaltbereiten Männern in den Freicorps in Deutschland nach dem ersten Weltkrieg und die denselben Kohorten entstammenden perversen Schwerverbrecher wie Fritz Haarman, Karl Denke oder Carl Grossmann[114] oder als ein Beispiel aus der jüngeren Geschichte an die Geschehnisse in Ruanda und ihren Zusammenhang mit den sehr hohen Geburtenraten dort.[115] Zudem scheint es, als wollten die Selbstmordattentäter aus den heutigen „Kohorten der Überflüssigen“ den so furchtbar zugerichteten Christus in seiner von Paulus unterstellten „Überwindung des Fleisches“ für eine Erschaffung des „Wiederauferstehungsleibes“ an Radikalität noch übertreffen: das Selbstmordattentat als die ultimative Form der fleischlichen Zerstückelung als zugleich auto- und heterodestruktive „carneologische Abwehr“. Was meint: Abwehr von unerträglicher Präsenz der „Natalitätsaffekte“, was meint: ungetröstet ins Fleisch einer physiologischen Frühgeburt gestoßen zu sein. Natologisch-carneologisch betrachtet ist diese oft als „unverständlich“ und „sinnlos“ charakterisierte Gewalt also durchaus grundsätzlich verstehbare Ausdrucksform: für das subjektive Widerfahrnis des unaussprechlichen Zustands der Zerstückelung nämlich. Hier zerstückelt das durch die Explosion des Sprengstoffgürtels buchstäblich zerstückelte Fleisch als Geschosse die Leiber der Umstehenden und setzt die furchtbarsten „Fleischwunden“.[116] In der hier vertretenen Auffassung ist es also ein spezielles, tendenziell „prä-affektives“ Konvolut von mit Inkarnation untrennbar einhergehender Selbsterfahrung von Schwäche, Erbärmlichkeit, Würdelosigkeit und Minderwertigkeit, Isolation und Sinnlosigkeit, die am Höhepunkt möglicher Intensivierung die Phänomene der autotelischen Gewalt hervorbringen kann. Das meint nicht allein den tatsächlichen Blutrausch, sondern auch seine schockgefrorene notdürftige Letztdomestizierung als die faschistoide Dauerhaltung chronischer Verachtung und kalter Gleichgültigkeit gegenüber allem Schwachen, Verletzlichen und Erbärmlichen und den diese Eigenschaften – die natürlich unbewusst immer auch die des je eigenen Fleisches ist – traditionell repräsentierenden „Kreaturen“: neben dem wimmelnden Ungeziefer und dem sich windenden Gewürm der Massen herkömmlicherweise Krüppel und Kranke, Frauen und Fremdrassige, Juden und Homosexuelle[117] oder sonstige bisweilen auch modisch variierende Kandidaten für die Figur des „Asozialen“.[118]
c) Schwein und Weib
Als vielleicht schlagendes Beispiel für diesen oft religiös unterfütterten Zusammenhangs von (Un-)Reinheit und Fleisch ist das Schwein.[119] Das Schwein, besonders das „Large White“, ist in seiner Nacktheit nicht minder schockierend als eine Nacktkatze, erwartet man beim Tier doch zuallererst ein zum Kuscheln einladendes dichtes weiches Fell. Allerdings findet man unter Schweinen selten solch‘ ärmliche Gerippe wie es eine Katze ohne Fell ist, sondern zumeist fette, feiste, dralle Wesen mit obszön rosafarbenem „Inkarnat“ mit daraus sich aufdrängender sinnlicher Fleischlichkeit. Seine Stummelbeine bestürzen, weil sie an menschliche Missgeburten denken lassen, denen der aufrechte Gang verwehrt bleibt. Sein intelligentes Gesicht, das uns gelegentlich angrinst und dabei sein mit uns gemeinsames Omnivorengebiss zeigt, wird in dieser unheimlichen Ähnlichkeit zur Fratze des menschlichen Antlitzes. In seiner Lust am Dreck rührt es an geheime menschliche Gelüste und Ängste. Und das Schwein riecht förmlich den nahenden Tod und schreit in seiner Todesangst so erschütternd wie der sich seiner Sterblichkeit bewusste Mensch. Dessen Fleisch soll im Übrigen so schmecken wie das des Schweines, jedenfalls erzählen uns das die Kannibalen, die den gebratenen Menschen als das „lange Schwein“ bezeichnen. Und wer einmal in einem Operationssaal für plastische Chirurgie gearbeitet hat, wird bestätigen können, dass das rauchige Odeur dort sich wenig unterscheidet von dem eines speckigen Schweinebratens auf dem Grill einer Bude.
Weil uns das Schwein so ähnlich ist, eignet es sich für die Projektion all dessen, was uns an unserer Fleischlichkeit so schwer erträglich ist. Das Schwein ist „Fleisch“, nicht wir selbst. Das Schwein erschreckt uns in seiner Nacktheit und Unreinheit in besonderem Maße, weil es uns nahezu unmöglich geworden ist, uns zu unserer eigenen bisweilen jämmerlichen Nacktheit und unbezwingbaren Unreinheit „im Fleische“ zu bekennen und sie miteinander in gemeinsamer Anstrengung zu tolerieren. Dabei scheint es zumindest zweierlei Wege im Umgang mit dieser „carneologischen“ Spaltung und Projektion zu geben: die gesteigerte Abscheu gegen das Schwein mit dem Verbot des Kontaktes und seines Verzehrs wie in bestimmten religiösen Vorschriften. Oder, in einer „Reaktionsbildung“ zum panischen Abstand, durch Steigerung der Nähe bis zur Kommunion mit ihm durch die heute übermäßige Produktion und den übermäßigen Verzehr seines gekochten und gebratenen Fleisches. Hierin kehren, so könnte man vermuten, die verdrängte eigene Fleischlichkeit und der Appetit auf sie, zubereitet auf dem Teller wieder, um durch seinen Verzehr einer totalen „gastrointestinalen Verdrängung“ mittels lustvoller „Introjektion“ zugeführt zu werden.
Da letzteres vor allem und nicht nur unter abendländischen Männern sehr beliebt ist, muss die Quelle dieses Typs „carneologischer Projektion“ möglicherweise ein Stück weit in Richtung auf den männlichen Menschen verschoben betrachtet werden, um sie zu verstehen. Dann wird möglicherweise erkennbar, warum die Frau und das Schwein im Unbewussten des Mannes bisweilen ineinander verschwimmen. Denn die Frau kann als menstruierende und in Schwangerschaft und Geburt deformierte und durch Brust und Hüften drall und wohlgeformte ihre Fleischhaftigkeit weniger gut verbergen als der Mann mit seiner stählern muskulären Festigkeit und seinem verhältnismäßig kleinen, appendixartigen Geschlechtsorgan. Und es ist für nicht wenige pubertierende Mädchen keine leichte Aufgabe, das „Feiste“ und „Dralle“ ihrer körperlichen Blüte zu verkraften und zu bejahen, weshalb die anorektische Reaktion bei ihnen stets auf der Lauer liegt. Um ihrem Fleisch seinen Schrecken gegenüber dem Mann zu nehmen ist die Frau bei Strafe der Verachtung zu einer Vielzahl von Verschönerungsmaßnahmen verpflichtet. Ganz wie ein gebratenes „schönes Stück Fleisch“ den lieblichen Duft zum Wohlgefallen des sich darin erhoben wähnenden Mannes verbreitet, so sollte die Frau mit lieblichem Duft und in lieblicher Gestalt dem Mann den Schrecken vor dem Fleisch nehmen und sein Begehren wecken, um sich von ihm verzehren zu lassen.[120] Die Frau soll auf andere Art als das knusprig zubereitete Schwein ein „schönes Stück Fleisch“ (man denke an das Bild “Der schöne Schinken” 1934 von Jindrich Styrsky) sein, denn Fleisch wird dann erst appetitlich auch im erotischen Sinne, wenn es uns mit guten fleischlichen Argumenten überzeugend darlegen kann, dass es zwar durch und durch Fleisch, dabei aber ohne alles Unreine am Fleische ist. Kein verstecktes Muttermal am Rücken darf diesen erotischen Zauber stören, wie bei Catherine Deneuve in „Belle de Jour“. Es bedarf stets der glatten, reinen makel- und haarlosen Haut, der straffen Brüste, einer strammen Muskulatur, der ebenmäßigen Züge, der runden Formen, einer rosigen Frische und der ewigen Jugendlichkeit. Es darf als Fleisch nichts aufweisen, was daran erinnert, dass es im nächsten Moment alt, hässlich, zerfurcht, vergehend, verwesend, elend, schmerzzerfressen, bedürftig, obszön, ekelerregend, stinkend sein wird. Weshalb auch Alte, Krüppel, Missgeburten und Obdachlose uns schaudern machen, erinnern sie uns doch an das, was auch wir selbst seien könnten, sein werden und damit auch immer schon sind, wovon wir aber eben nichts wissen wollen. Wir suchen Zuflucht vor solchem Schrecken beim „gereinigten“ Fleisch, das aber dennoch ganz eindeutig Fleisch ist. Darin soll es sich als Beweisstück vorlegen, um seinen Betrachter davon zu überzeugen, dass es nicht ist was es ist. Das ist dann das schöne, das vollkommene, das darin erotisch anziehende, weil über sein Wesen täuschende und dennoch echte Fleisch. Und dies auf identische Weise betont vor allem in der männlichen homo- und heterosexuellen Welt. Dieses sich durch sich, sich durch seine Sichtbarkeit unsichtbar machende Fleisch ist ein wesentlicher Auslöser der affektiven Qualität des Schönen[121] und der Verführungskraft der Bilder und der Verführbarkeit des Auges durch erotisiertes Fleisch überhaupt. Solches heute zunehmend durch technische Eingriffe vervollkommnete Fleisch: als Photographie, im Film und inflationär in den digitalen Bilderwelten und in seinen dinglichen Derivaten der Designindustrie, man denke einmal an die Formen unserer Autos. Mit solch vervollkommnetem Fleisch wollen wir uns, um das im stets flirrenden Vexierbild je unseres eigenen Fleisches liegende Grauen vergessen zu machen, beständig sinnlich umgeben: ob als Bild, als Geruch, als Gesang, als Geschmack – oder wollen es selbst sein und formen uns in mühsamen Prozeduren dazu um. Wir wollen es ungestört immer betrachten können, immer wieder neu und unverbraucht, frisch also, denn sein Altern unter Kenntnis und Gebrauch machen seinen und somit unseren eingeborenen Mangel unübersehbar. Sonnen-, Nagel- und Fitnessstudios schießen daher in Zeiten verstärkter carneologischer Panik und Intoleranz wie Pilze aus dem Boden. Sie sind Zeichen wachsender carneologischer Unbeholfen- und Ungebildetheit. Sie gehören zu den politisch korrigierten Nachfolgevorhaben der vorübergehend noch obsoleten Rassenhygiene[122], wie wir sahen, die über die Hygiene des Blutes im Wesen eigentlich eine Fleischhygiene war. Man denke an den Unterschied der einschlägigen Bilder vom semitischen und vom arischen „Fleisch“ aus der Zeit des Nationalsozialismus. In den heute möglichen vervollkommnenden Operationen am Fleisch wird das naturgemäß Unmögliche als quasi „materialisierte Illusion“ wahr gemacht, denn das „aufgebaute“, das gestraffte, das „bearbeitete“, das zukünftig „gehackte“ und „editierte“ Fleisch entfernt sich, analog zum „Auferstehungskörper“, maximal von seiner doppelgesichtigen Natur, was meint: von der Tatsache seiner Natalität bzw. seiner physiologischen Frühgeburtlichkeit. Und dies, ohne sich darum noch weiter in einer imitatio christi schinden zu müssen, wie durch die traditionellen Praktiken der Selbstgeißelung im Christentum.[123] Wobei allerdings die militärisch aufgereihten, das Fleisch aufs Göttliche hin (ver)formend-verchromten Endgeräte in den modernen Bodybuilding-Studios manchen heutigen Beobachtern wie ein aufgeklärter, und daher nicht weiter direkt ins Fleisch einschneidender Bußgürtel vorkommen.
Der Anblick des „lieblichen“ Fleisches, seine Berührung und die Verschmelzung mit ihm zu „einem Fleisch“ in der Sexualität und sein imaginierter Verzehr vermag also einen tief sättigenden und dennoch zugleich höchst illusionären Moment von Erfahrung eigener „vollkommener Reinheit“ zu wecken. Und so ist es nicht das Fleisch selbst, das plötzlich nur noch schön ist, denn Fleisch an sich bleibt immer ein zwischen Faszination und Grauen vexierendes, sondern es sind die durch nachhelfende Techniken der illusionären Reinigung veränderten und verändert wahrgenommenen Formen und Oberflächen des Fleisches, die in einer „carneologischen Spaltung“ als purifizierte als schön empfunden werden und eine erotische Anziehung und darin die Psychose der Verliebtheit auslösen, die zur Berührung und schließlich zur sexuellen Vereinigung drängt. Die aber spätestens dann immer auch wieder schlagartig das Verdrängte am Fleische aufscheinen lassen: seine Gewaltsamkeit, seine Verletzlichkeit, seine üblen Gerüche, seinen Schmutz, die Besudelung und die Verunreinigung durch den Sex oder die, wie Leonardo da Vinci einst feststellte, geradezu unerträgliche Hässlichkeit der Geschlechtsorgane.[124] Daher auch folgt auf den Sex, wo nicht eine liebende, vergebende Beziehung die Desillusionierung, d.h. die heraufdämmernde Kränkung durch den postkoitalen „Kurzschluss mit dem eigenen und dem anderen Fleisch“ auffängt, stets das Elend.
d) Das Rätsel der Kränkung
Situative Schwächeerfahrung kann einen plötzlichen und unvorbereitet-unvermittelten Kontakt mit dem eigenen puren fleischlichen Seinsgrund stiften durch eine momenthafte, durch keine schützende „elevatorische“ Illusion (bspw. einen Selbstwirksamkeitsrausch im Rahmen der Kontingenzentdeckung oder eine „Verbundenheitsillusion“ oder eben auch dem Anblick des Vollkommenheit evozierenden reinen Fleisches) verstellte, also entsicherte Direktverbindung mit der Tatsache, selbst am Grunde der Existenz bloßes, vereinzeltes „Menschenfleisch“, also maximalisoliert, instinktverlassen und a-sozial zu sein. Hierin liegt das „somatische Korrelat“ von seelischer Kränkung, die umso tiefer sich einschneidet und umso länger giftgleich verdirbt, je unvollständiger die auf suffizienter Ich-Struktur gründenden und in gewisser Weise immer „illusionsgenerierenden“ Kompensationsmöglichkeiten entwickelt sind. Daher geht höhergradige strukturelle Ich-Störung eben oft mit einer diesen Kurzschluss mit dem Fleisch zugleich körperlich zur Darstellung bringenden und unmittelbar abführenden Symptomatik direkt am eigenen Fleisch einher. Bekanntermaßen als psychosomatische Krankheit im engeren Sinne oder als jene Symptomatik mit direkter Beteiligung des Fleisches und seiner Anhangsorgane.
Sich schutzlos als fragmentiertes Fleisch erfahren zu müssen, die dämmernde Urerfahrung der Zerstückelung, ist der in langjähriger klinischer Erfahrung gewonnene Eindruck des Autors eben das, auf das man bei aller seelischen Archäologie immer wieder stößt. Es ist der Kern des Abgewehrten, die Quelle des „Widerstands“, ist das, worauf die zentrale Angst sich richtet und Grund des „primären“ Masochismus und der negativen therapeutischen Reaktion. Denn eine unvorbereitet und/oder unfreiwillige „Erinnerung“ an das eigene Fleisch-sein ist das quasi „blutige Herz“ des Kränkungsaffekts und ungemildert in vollstem Sinne des Wortes unerträglich, und, wie das Suchtmittelentzugssyndrom als protrahierte Form von Kränkung nach sinkendem Spiegel chemischen Kränkungsschutzes zeigt, nicht selten tatsächlich tödlich. Und darum sollte es hier gehen: um ein Lesen in den Spuren eines bestimmten inneren Erlebens, in einer „Phänomenologie“ des geburtstraumatisch instinktverlassenen, „trostlosen“, a-sozialen Fleischseins, als der Kernerfahrung, die wesenhaft Widerfahrnis ist, von Individuation und Inkarnation. Einen Blick dafür zu entwickeln ist nicht ganz leicht, denn, wie Volker Demuth zurecht schreibt, ist das Fleisch das Obskure des Körpers.
e) Neueste Optionen von Reinheit
Eine Reinheitsobsession zeigt sich aber heute auch noch an weniger offensichtlicher Stelle als seinerzeit in Gestalt öffentlicher Eugenik, und weniger technisch als gegenwärtig in Pharmakoenhancing und Schönheitschirurgie. Sie zeigt sich in den Merkwürdigkeiten der Diversitätsforschung und der inflationär um sich greifenden Minderheitenhege, die von dem unbewussten Motiv angetrieben scheint, Kränkung schlechthin abschaffen zu wollen. Jene Kränkbarkeit, die mit unserem jeweiligen „Nur-So-Sein“ als Mann, als Frau, homo/hetero, Trans -, irgendwie mehr oder weniger Behinderter, einer bestimmten menschlichen Rasse, einem bestimmten menschlichen Geschlecht zugehörig zu sein etc., was letztlich meint: als fleischlich geborenes und darin „festgestelltes“ Wesen, einhergehen. Man ist nicht länger bereit, seine „Behinderungen“, deren wesentlichste die individuierte Existenz als ein Geschlecht im Fleische ist, auf sich zu nehmen und zwingt sein Umfeld in einen immerwährenden Bereitschaftsdienst zu intersubjektiv-politischer Korrektheit für ein Ende der Diskriminierung, eine nicht mehr als bloß ergänzungsbedürftige Existenz sein zu können. Dies führt allmählich dazu, dass man sich nur noch als Betreuer und Betreute, als Versorger und Versorgte, als Beschützte und Beschützende, als Retter und Gerettete, als Therapeuten und Klienten, letztlich als Säuglinge und Mütter begegnet, changierend zwischen tiefenregrediert maßlos fordernder Hilflosigkeit und überspannt-erschöpfter Verantwortlichkeit. Und das wissenschaftlich unterfütterte sozialpädagogische und therapeutische Pampern der wirklich Kranken, Behinderten und Diskriminierten schließlich dient dem Restkollektiv zur Aufrichtung eines auch sie betreffenden Erlösungsphantasmas und führt hier zu der subtilsten Form des Missbrauchs in Gestalt seines praktizierten Gegenteils: Diskriminierung durch mitfühlende Versorgung. In der Psychotherapie nannte man solches Verhalten einer Mutter gegenüber ihrem Kind früher „überprotektiv“ und sah darin eine „pathogene Objektbeziehung“. Der Begriff erfuhr zusehends seltener Verwendung, weil eben diese pathogene Objektbeziehung inzwischen zum gesamtgesellschaftlichen Normalfall geworden ist. Solche Instrumentalisierung infantilisiert ganz real einen beständig wachsenden Teil der Bevölkerung und gibt den ihn scheinbar erwachsenen Versorgenden bis zum Punkt ihrer Erschöpfung ein Gefühl, „gut und ganz“ zu sein: sie schafft somit Halt und Schutz vor den eigenen fleischlichen Schwächen. Der geheime Plan von der Abschaffung des Dunkels der Kränkung in der heutigen „Therapiegesellschaft“ ist ebenso wie Eugenik und Schönheitsoperation eine die alten Heilsvorstellungen der Religionen supplementierende säkularistische Illusion von einer Überwindung des Fleisches. Es können derzeit zwar nicht länger die Schwachen selbst ausgerottet werden, aber dafür umso konsequenter ihre Schwächen. Defeat Depression! Wir hörten bereits davon. Das technische Mittel hierzu ist nicht länger die Gewalt, sondern die Liebe. „Sondern erlöse uns von der Liebe“ schrieb Suzanne Brøgger daher schon 1978. Bis die Erschöpfung darin wieder notwendig manifest wird: dann geht es möglicherweise wieder an die Schwachen selbst, derzeit v.a. an die vermeintlich moralisch Schwachen. Als ein Höhepunkt: der als Antirassismus praktizierte Rassismus gegen jene bekennenden Rassisten, an denen sich die verdrängte Verachtung austoben darf. Und an all denjenigen, die durch die heutige politische Propaganda in ihre Nähe gerückt werden. Hier keimt möglicherweise ein neuer Faschismus, der sich, weil er sich in seinem Gegenteil verbirgt, unerkennbar macht. Ein Faschismus, der uns in all dem, was geschildert wurde, ergriffen hat. Es steht zu befürchten, dass noch einmal Schreckliches über die Menschheit kommen könnte, weitaus schrecklicher als das, was der deutsche Faschismus hervorgebracht hatte. Wenn es so käme, worauf die Weichen heute gestellt werden, dann wäre Hitler nur ein Vorläufer.[125]
[1] Otto, Rudolf (1917): Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen.
[2] Ez 36, 26-27 „Und ich will euch ein neues Herz und einen neuen Geist in euch geben und will das steinerne Herz aus eurem Fleisch wegnehmen und euch ein fleischernes Herz geben. Ich will meinen Geist in euch geben und will solche Leute aus euch machen, die in meinen Geboten wandeln und meine Rechte halten und danach tun.“ Das fleischerne Herz ist das „hörende Herz“ im Gegensatz zum steinernen, es kann Gottes Botschaften empfangen und darin leben lernen.
[3] Wendt, Hans Hinrich (1878): Die Begriffe Fleisch und Geist im biblischen Sprachgebrauch.
[4] Tresmontant, Claude (1971): Paulus in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten.
[5] Heimerl, Theresia (2013): Ein Sack voll Blut und Schleim. In Herder Korrespondenz 67, S. 552–556.
[6] Harari,Yuval; Daniel Kahnemann (2022): „Death is Optional“. EDGE
Interview. „In the Industrial Revolution of the 19th century, what humanity basically learned to produce was all kinds of stuff, like textiles and shoes and weapons and vehicles, and this was enough for the very few countries that underwent the revolution to subjugate everybody else. What we're talking about now is like a second Industrial Revolution, but the product this time will not be textiles or machines or vehicles, or even weapons. The product this time will be humans themselves.
We're basically learning to produce bodies and minds. Bodies and minds are going to be the two main products of the next wave of all these changes. And if there is a gap between those that know how to produce bodies and minds and those that do not, then this is far greater than anything we saw before in history.
And this time, if you're not fast enough to become part of the revolution, then you'll probably become extinct. Countries like China, missed the train for the Industrial Revolution, but 150 years later, they somehow have managed to catch up, largely, speaking in economic terms, thanks to the power of cheap labor. Now, those who miss the train will never get a second chance. If a country, if a people, today are left behind, they will never get a second chance, especially because cheap labor will count for nothing. Once you know how to produce bodies and brains and minds, cheap labor in Africa or South Asia or wherever, it simply counts for nothing. So in geopolitical terms, we might see a repeat of the 19th century, but in a much larger scale.“ https://www.edge.org/conversation/yuval_noah_harari-daniel_kahneman-death-is-optional Printed On Fri September 2nd 2022
[7] Heinsohn, Gunnar (1997): Die Erschaffung der Götter. Das Opfer als Ursprung der Religion.
[8] http://stelarc.org/projects.php
[9] http://www.jakeanddinoschapman.com/
[10] Demuth, Volker (2016): Fleisch. Versuch einer Carneologie.
[11] Alloa, Emmanuel; Bedorf, Thomas; Grüny, Christian (Eds.) (2012): Leiblichkeit. Geschichte und Aktualität eines Konzepts.
[12] Lessing, Theodor (1973): Haarmann. Die Geschichte eines Werwolfs. S.64: „Man kann die Schlange nicht richten, ohne zugleich den Sumpf mit vor Gericht zu stellen, daraus allein die Schlange ihre Nahrung zog.“
[13] Lucas, Anneke (2022): The Quest for Love. Memoir of a Child Sex Slave.
[14] Swiss Policy Research (aktualisiert zuletzt 2024): Geopolitik und Pädokriminalität. https://swprs.org/geopolitics-and-pedocriminality/ Es handelt sich um kurze Artikel und eine Zusammenstellung von Quellen zum Thema.
[15] Ein typischer Vertreter dieses Personenkreises ist zum Beispiel Maurice Strong, der sämtliche großen Klimakonferenzen auf der Welt organisiert und das „World Economic Forum“ mitgegründet hat. Er war als Rockefellerprotegé zu Macht und Reichtum im Ölgeschäft gelangt und musste wegen unethischer Geschäfte seine letzten Jahre in China verbringen. Auch er scheint in Beziehung zu satanischer Religion gestanden zu haben. Engdahl, William (2022): The Dark Origins of the Davos Great Reset. „Before he was forced to leave the UN in disgrace over an Iraq Food-for-Oil corruption scandal, Strong was member of the Club of Rome, Trustee of the Aspen Institute, Trustee of the Rockefeller Foundation and Rothschild Foundation. Strong was also a director of the occult Temple of Understanding of the Lucifer Trust (aka Lucis Trust) housed at the Cathedral of St. John the Divine in New York City, “where pagan rituals include escorting sheep and cattle to the alter for blessing. Here, Vice President Al Gore delivered a sermon, as worshippers marched to the altar with bowls of compost and worms…“ http://williamengdahl.com/gr22October2022.php
[16] Todd, Emmanuel (2024): La Défaite de l’Occident. Deutsch: Todd, Emmanuel (2024): Der Westen im Niedergang. Ökonomie, Kultur und Religion im freien Fall. Kapitel IV, S.121 ff.
[17] Baudelaire, Charles (1860/2011): Die künstlichen Paradiese.
[18] Wie sie bspw. von Jan-Philipp Reemstma, Wolfgang Sofsky, Jörg Barberowski, Rüdiger Neitzel, Gunnar Heinsohn oder Klaus Theweleit vorgelegt wurde. Siehe die entsprechenden Literaturhinweise.
[19] Siehe das Symposion: „We are Meat“ der Guardini Stiftung am 16. und 17. Januar 2015 in Berlin
[20] Demuth, Volker (2016): Fleisch. Versuch einer Carneologie. S.73
[21] Theweleit, Klaus (2015): Das Lachen der Täter: Breivik u.a. Psychogramm der Tötungslust (Unruhe bewahren). S.118. Dazu die Rezension durch: Müller, Frank: Buchbesprechung zu Theweleit, Klaus: Das Lachen der Täter. Breivik u. a. Psychogramm der Tötungslust. Unruhe bewahren. Salzburg. In Psyche 72 (1), S. 84–87.
[22] Übersicht bei Kühn, Rolf (2008): Phänomenologischer Leibbegriff und christologische Inkarnation. In Münchener Theologische Zeitschrift 59, pp. 239–255.
[23] Nietzsche, Friedrich (2009a): Fröhliche Wissenschaft. In Friedrich Nietzsche, Giorgio Colli: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. S. 468. „Hüten wir uns, zu sagen, dass Tod dem Leben entgegengesetzt sei. Das Lebende ist nur eine Art des Todten, und eine sehr seltene Art.“
[24] Husserl, Edmund (1907/1973): Ding und Raum. Vorlesungen.
[25] Bataille, Georges; Bergfleth, Gerd; Blanchot, Maurice (2017): Die innere Erfahrung.
[26] Desmet, Matthias (2024): Some notes on tyranny against the backdrop of U.S. Election Day.
[27] Heinsohn, Gunnar; Steiger, Otto (1985): Die Vernichtung der weisen Frauen. Beiträge zur Theorie und Geschichte von Bevölkerung und Kindheit.
[28] zur Lippe, Rudolf (1988): Vom Leib zum Körper. Naturbeherrschung am Menschen in der Renaissance
[29] Burschel, Peter (2014): Die Erfindung der Reinheit. Eine andere Geschichte der frühen Neuzeit.
[30] Formulierung nach Hellmuth Plessner in Fuchs, Thomas (2015): Körper haben oder Leib sein. In Gesprächspsychotherapie und Personenzentrierte Beratung 15 (3), S. 147–153. und auch bei Gabriel Marcel (1978): Leibliche Begegnung. Notizen aus dem gemeinsamen Gedankengang. in: Kraus, Alfred (Hrg.) (1978): Leib -Geist - Geschichte. Zit.n.: Alloa, Emanuel; Depraz, Natalie (2012): Edmund Husserl-„Ein merkwürdig unvollkommen konstituiertes Ding.". In Emmanuel Alloa, Thomas Bedorf, Christian Grüny (Eds.): Leiblichkeit. Geschichte und Aktualität eines Konzepts. S. 7–22.
[31] Kristensen, Stefan (2012): Maurice Merleau.Ponty I - Körperschema und leibliche Subjektivität. In Emmanuel Alloa, Thomas Bedorf, Christian Grüny (Eds.): Leiblichkeit. Geschichte und Aktualität eines Konzepts. 2. verbesserte und erweiterte Auflage (utb Philosophie, Soziologie), pp. 23–36.
[32] Scheidegger, Julia (2012): Michel Henry – Transzendentale Leiblichkeit. In Emmanuel Alloa, Thomas Bedorf, Christian Grüny (Eds.): Leiblichkeit. Geschichte und Aktualität eines Konzepts. 2. verbesserte und erweiterte Auflage (utb Philosophie, Soziologie), pp. 100–115.
[33] Frank, Manfred (2015): Präreflexives Selbstbewusstsein. Vier Vorlesungen.“Gäbe es nicht zu jeder Reflexion zuvor ein mit sich un-mittelbar (also nicht erst durch Vermittlung eines zweiten mentalen Akts) bekanntes Bewusstsein, wie könnte die Reflektion sicher sein, im Reflektierten sich selbst und nicht ein ihr Fremdes anzutreffen? Diese Überzeugung impliziert die andere, nämlich dass `gegenständliches´ Bewusstsein (verstanden als Bewusstsein von einem vom Bewusstsein selbst verschiedenen Gegenstand) ein `ungegenständliches´, ein von seinem Gehalt nicht unterschiedenes Selbstbewusstsein einschließt, in dem Subjekt und Objekt des Aktes nicht auseinanderfallen.“ Hier scheint ein „Ichsein“ gemeint, das unabhängig und möglicherweise lange vor dem intersubjektiv konstituierten Selbst- und Ichbewusstsein gegeben ist.“
[34] hierzu auch die Hinweise von Lorenz, Maren (2000): Leibhaftige Vergangenheit. Einführung in die Körpergeschichte. S.32 ff.
[35] Alloa, Emanuel; Depraz, Natalie (2012): Edmund Husserl-„Ein merkwürdig unvollkommen konstituiertes Ding.". In Emmanuel Alloa, Thomas Bedorf, Christian Grüny (Eds.): Leiblichkeit. Geschichte und Aktualität eines Konzepts. S. 11
[36] Alloa, Emanuel; Depraz, Natalie (2012), S. 12
[37] Hier geht es um Leibwahrnehmung im gentivus obiectivus und gentivus subiectivus zugleich, als „asymptotische Annäherung“ zwischen Wahrnehmendem und Wahrgenommenem. Hier wird die scharfe Differenzerfahrung des Fremden, des Anderen und Unerreichbaren, des Opaken und Hermetischen auf ein bestimmte Weise abgemildert, denn das radikal Trennende, die raumzeitliche Differenz unter vereinzelten Individuen, ist aufgehoben. Es tritt aber dafür eine andere, weniger scharf begrenzte Fremdheit ins Erleben: eine Fremdheit nach innen hin, die Fremdheit des Fleisches. Wahrnehmen verwandelt sich unter dieser sich ausdehnenden, aber unabgeschlossen bleibenden Auflösung des Subjekt-Objekt-Gegensatzes in das sich-Spüren. „Spüren“ ist hier im Sinne von spürn (mhd.) und spurian (ahd.) gemeint, was bedeutet: „eine Spur suchen“, sozusagen „nachträglich“ (!) die Spur des Eigenen aufnehmen oder durch das ihr Folgen sie erst erzeugen, um dort, um die innere Not gegenüber dem Unheimlichen und der Bestialität des Fleisches zu wenden, unablässig „handhabbare Differenz“ zu generieren. Dieses „spüren“ als, einmal im Leben bis zu seinem Ende, anfangsloses und zielloses Suchen, Setzen und Folgen von Spuren, finden sich ebenfalls im Begriff des „Willens“ Schopenhauers oder in dem, was Jaques Derrida „différance“ nannte.
[38] Wodurch sich „Betroffenheit“ und „Involviertsein“ von bloßer „Wahrnehmung“ unterscheiden, wird dennoch zu klären sein.
[39] Lorenzer, Alfred (1972): Zur Begründung einer materialistischen Sozialisationstheorie.
[40] Zepf, Siegfried (1997): Gefühle, Sprache und Erleben. Psychologische Befunde - psychoanalytische Einsichten.
[41] Zepfs Argumentation geht verkürzt wie folgt: Vorsprachliche Affekte habe die Struktur von sprachlichen Symbolen. Sprache besitzt begriffsspezifische Prädikatoren, Worte. Affektspezifische Prädikatoren sind körperliche Prozesse, die sog. „autonomen imageries“. Subjektiv hervorrufbare unterscheidbare Vorstellungen von Worten ermöglichen Umgang mit unterscheidbaren Begriffen. Subjektiv hervorrufbare Vorstellungen von körperlichen Zuständen, „Autonome Imageries“, ermöglichen eine vorsprachliche Symbolbildung mit ersten Erkenntnisprozessen und primärprozesshaftem Denken mit seinen „synkreten“ (vermischenden) Mechanismen. Diese durch körperliche Zustände vermittelten „Vorstellungen“, die Affektsymbole, ermöglichen, eine konkrete Situation als „Fall von“ zu erkennen. Schon vor dem Spracherwerb ist also Erkenntnis möglich. Nach dem Spracherwerb werden den Begriffen über die autonomen imageries emotive Bedeutungen zugeordnet.
[42] Zepf, Siegfried (1997): Gefühle, Sprache und Erleben. Psychologische Befunde - psychoanalytische Einsichten. S. 64
[43] Nádas, Péter (2002): Der eigene Tod.
[44] van Lommel, Pim (2013): Endloses Bewusstsein. Neue medizinische Fakten zur Nahtoderfahrung. Seitenzahl überprüfen
[45] Schmitz, Hermann (2011): Der Leib Bei Schmitz findet sich die wohl derzeit erschöpfendste phänomenologische Analyse leiblicher Erfahrung überhaupt. Was aber „Fleisch“ phänomenologisch, insbesondere unter der psychopathologischen Hinsicht aufdeckt, ist, was es also vor aller leiblicher Erfahrung, allem „Spüren“, das ja schon eine gewisse Befriedung des Fleisches und eine Heilung seiner Zerstückelung zur Voraussetzung hat, war und jederzeit auch wieder werden kann, scheint ihm, soweit meine Kenntnis reicht, entgangen zu sein.
[46] Evertz, Klaus; Janus, Ludwig; Linder, Rupert (Hrsg. ) (2016): Lehrbuch der Pränatalen Psychologie. Lehrbuch der Pränatalen Psychologie
[47] Im 1. Kor 15, 39 heißt es: „Nicht alles Fleisch ist dasselbe Fleisch: sondern ein Anderes ist das der Menschen, ein anderes das der vierfüßigen Thiere, ein Anderes das der Vögel, ein Anderes das der Fische.“
[48] Zepf 1976b. Hier lassen sich Verbindung erkennen zu Siegfried Zepfs Theorie der psychosomatischen Erkrankung als Folge „restringierter Praxis“ im Gegensatz zu einer auch die Differenzierung körperlicher Funktionen und Strukturen fördernder „elaborierter Praxis“. Zepf 1976b.
[49] Reemtsma, Jan Philipp (2013): Vertrauen und Gewalt. „Autotelische Gewalt“ steht nach Jan-Philipp Reemtsmas Bestimmung zwei anderen Formen von Gewalt gegenüber: der „lozierenden Gewalt“, die eine gewaltsame Ortsveränderung von Körpern zu bestimmten Zwecken vorsieht und der „raptiven Gewalt“, die sich eines Körpers bemächtigt, um sich an ihm anderweitig zu befriedigen. „Autotelische“ Gewalt zielt dabei an ihrem äußersten Pol auf ihren Vollzug direkt am „Fleisch“ des Körpers eines anderen. Sie erscheint zunächst als eine Gewaltform, die, anders als die beiden anderen Formen von Gewalt, aus dem System der Zweckrationalität herausfällt – auch wenn sie nicht selten selbst wieder in Zwecke eingebunden wird – denn sie ist, wie J. P. Reemtsmas Begriffe es wechselseitig zu konturieren versuchen, sich selbst Grund.
[50] Neitzel, Sönke; Welzer, Harald (2012): Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben. Dieses Buch ließe sich zu einem derzeit wiederholt beobachtbaren Versuch einer „renaturalisierenden Erklärung“ von Gewalt heranziehen. Hierin wird die Erklärungsschwierigkeit einer “selbstgenügsamen Gewalt” gegen das lebende Fleisch mit der unterstellten, gleichartigen Unbegründbarkeit von Sexualität oder Hunger oder gar dem Bedürfnis zu atmen bedeutungslos gemacht. Gewalt wird hier, sozusagen „heimlich darwinistisch“, zu einem notwendigen Vorgang des Überlebens aufgewertet. Für weiterhin an einem „Warum?“ und „Warum so?“ Interessierte stellt sich natürlich Unzufriedenheit ein bei diesem Ansatz. Der Verzicht auf weitergehende Erklärung, der Versuch, Gewalt zur beobachtbaren Tatsache reduzierend zu „vernaturwissenschaftlichen“ und sich in bloßer Beschreibung der Gewalthandlungen zu ergehen – die allerdings ohne Zweifel für ein Verstehen von Gewalt sehr bedeutsam ist - scheint ein Aspekt des „aktuellen Stils“ im Umgang mit dem scheinbar Unerklärbaren. ist selbst eine Folge von Gewalt und trägt zu ihrer Perpetuierung bei. Aufschlussreich ist übrigens, dass Hunger, Sexualität, Atmen und Gewalt durch die Autoren in einem Atemzug genannt werden: man könnte darin einen Hinweis auf die Not des alle diese Tatbestände Verbindende erkennen: die Not, ein isoliertes Individuum aus Fleisch und Blut zu sein.
[51] Agamben, Giorgo (2002): Homo Sacer. Die Souveränität und das nackte Leben.
[52] Schund: Abfall des Abdeckers beim Schinden’, z. B. ‘von den Häuten abgeschabtes Fleisch’.
[53] Bataille, Georges (2001): Die Aufhebung der Ökonomie. Eine „Heterologie“ ist die Lehre des Verpönten, Verfemten, Ausgeschlossenen
[54] Deleuze, Gilles; Guattari, Félix (1984): Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie
[55] Bataille, Georges (1994): Die Erotik. Kapitel XIII: Die Schönheit. S135 ff.
[56] siehe George Batailles „Heterologie“
[57] Die „erotische Anamnesis“ ist daher nicht eine platonische, die die Schau des Wahren, in gewisser Weise höchstes positives Wissen also verspricht. „Sie übt“, so schreibt es P. Sloterdijk, „die Rückführung in die Sehnsucht, die jeden Gegenstand übersteigt. Die erotische Anamnesis ruft keine angeborenen Ideen hervor, sie vergegenwärtigt eine vorgeburtliche makellose Freiheit von Ideen und Vorstellungen jeder Art.“ P. Sloterdijk weist darauf hin, dass der die Erotik erklärende Neoplatoniker Marcilio „[…] Ficino, Platon folgend, eine verlorene Urpräsenz der Seele bei Gott voraussetzen [muss]. Ohne die unauslöschliche Erfahrung von transzendenten Flitterwochen mit dem Absoluten könnte der Liebende kein Leitbild des Zustands, auf das sein Begehren ausgeht, in sich tragen.“ Sloterdijk, Peter (1995): Sphären I Blasen, S. 216
In der paradoxen Figur einer Erinnerung als erotischer Anamnesis erlebt sich das Individuum noch einmal für einen kurzen Moment so, wie es sich erfuhr, als es noch kein Individuum war. Es soll sich erfahren, als es noch gar kein „Ich“ gab? Es soll „das Ganze“ sein und Individuum zugleich? Ein logischer Fundamentalwiderspruch. Es ist, als könnte man den eigenen Tod, das eigenen Nichtsein denken. Dass eben dieser Antinomie aber als einer „innere Erfahrung“ dennoch ein Recht auf ernstzunehmende theoretische Betrachtung zukommt, gründet auf den empirischen Befunden der Nahtodforschung und anderen Berichten von Menschen über „mystische Erfahrungen“ aller Art. Darin wird immer wieder genau von diesem, dem principium individuationis widersprechenden Erleben[57] in durchaus frappierender Klarheit und Übereinstimmung erzählt. Mit solcher „Empirie“ aus dem Feld der psychischen Realität, die zugegebenermaßen in nicht geringem Umfang aus Sicht gewöhnlicher Wissenschaft den Charakter eines „spekulativen Wagnisses“ besitzt, lässt sich eine solche „transzendente Wirklichkeit“ natürlich nicht beweisen. Aber es liegt wohl in der „Natur“ des Transzendenten, unbeweisbar zu sein, weil zu Beweisendes (etymologisch „etwas, was man sehen kann“) eben nur in diesseitigen, „materialistischen“ Zusammenhängen diskreter Objekte, Kräfte und Zustände zu finden ist, wo das principium individuationis und der Satz vom Grund ohne Einschränkung gelten. Aus der Nichtbeweisbarkeit von „Transzendentem“ aber auf seine Nichtexistenz (dies nicht im Sinne eines „Vorhandenen“ sondern im Sinne eines unbestimmteren „es gibt“ verstanden) zu schließen, ist wissenschaftlich unredlich. Sorgfältige, d.h. grundsätzlich an aller Wahrheit interessierte Wissenschaft, die nicht auf dem Ausschluss alles nicht intersubjektiv Beobachtbaren bzw. nicht experimentell intermomentan Reproduzierbaren aus ihrer Wirklichkeitsvorstellung aufbaut, muss sich daher dafür öffnen, im Rahmen zumindest zweier, zunächst unvereinbarer Paradigmen zu denken: einem im weitesten Sinne „religiösen“ „transzendenzbejahenden“ und einem säkularistischen, „transzendenzskeptischen“, wenn sie wirklich wissenschaftlich bleiben will. Übrigens dürfte eine solche wissenschaftliche Doppelgleisigkeit der Bildung rasch ins Kraut schießender, beiden Paradigmen je entstammender Dogmatiken und Totalisierungstendenzen entgegenwirken: ob als öder abgeklärter Naturalismus in den Naturwissenschaften oder als schwärmerische „schnelle Himmelfahrten“ im Bereich des Spirituellen. Neben solcher fundamentalismusmildernden Vorsorge dürfte wohl auch eine wechselseitige Befruchtung beider Perspektiven – nennen wir vorschnell einmal die traditionelle Wissenschaft eine tendenziell männliche und eine transzendenzoffene Wissenschaft eine tendenziell weibliche – so manches reizende Geschöpf ans Licht der Welt bringen.
[58] Burschel, Peter (2014): Die Erfindung der Reinheit.
[59] Bourdieu, Pierre (1982): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft.
[60] Jung Stilling, Johann Heinrich:
[61] Heinsohn, Gunnar, Steiger, Otto, Knieper, Rolf (1996): Menschenproduktion. Allgemeine Bevölkerungslehre der Neuzeit. Auch der Preußenkönig Friedrich, der nach dem perfekten Exerzieren seiner Regimenter sagte: „Sehr schön, aber sie atmen."
[62] Interessanterweise war es ebenso das Fleisch, und zwar das der Opfer, aus dem Göttlichkeitsentwürfe überhaupt hervorgingen. Dazu Karl Meuli und Gunnar Heinsohn, René Girard.
[63] Zur quasi-religiösen Aufladung von „Natur“ und „Ökologie“: Heinsohn, Gunnar (1993): Umweltapokalyptiker und Ökokrieger. In: Kulturamt Stuttgart (Hrg.): Zum Naturbegriff der Gegenwart.
[64] Demuth, Volker (2013): Fleisch. Warum wir ihm anhängen und weshalb wir von ihm abfallen. SWR Essay. Manuskript S. 8
[65] Demuth, Volker (2013): Manuskript S. 8
[66] Wie sehr dies auch den Körper und sein Fleisch oder seine Fleischlichkeit betrifft, kann man bspw. an den Performances des neuseeländischen Künstlers „Stelarc“ oder den Ersatz des physischen Körpers durch den Avatar im Netz, wie es bspw. von Christina von Braun beschrieben wurde.
[67] Austin, Gregory (1981): Die europäische Drogenkrise des 16. und 17. Jahrhunderts. In: Rausch und Realität, Jost Rautenstrauch Museum KölnGeburt istückelungnt idepressant Eradern espaltende Teil der Ambivalenz des Fleischlichen, ationtswünsche. kqnnöglicht.
[68] Healy, David (2003): The Antidepressant Era
[69] Zarzer, Brigitte (2004): Briten total entspannt. Telepolis, heise.de
[70] Healy, David (1999): The Antidepressant Era.
[71] Healy, David (1999), S. 61
[72] Harry Potter, Die Heiligtümer des Todes, Teil 2
[73] Lütkehaus, Ludger (2006): Natalität. Philosophie der Geburt.
[74] Gergely, G.; Watson, J.S.: (1996): The social biofeedback theory of parental affect-mirroring: the development of emotional self-awareness and self-control in infancy. Int J Psychoanal 1996 Dec:77 ( Pt 6): p. 1181-212.
[75] Nitzschke, Bernd (2007): Freud zum Hundertfünfzigsten – Noch eine (verspätete) Gratulation. Agora. IPD Düsseldorf
[76] gody meint im urbanen Gebrauch der englischen Sprache den "göttlich schönen Körper", „the Body of a God“, aber auch die religiöse Überladung peinlicher Bigotterie
[77] Zitate nach von Braun, Christina (2002): Versuch über den Schwindel. S.278
[78] Dazu, sehr instruktiv: Kirsch, Irvin (1999): How Expectancies Shape Experience. Oder auch: Fisher, S., Greenberg R.P. (Hrsg.) (1989): The Limits of Biological Treatments for Psychological Distress: Comparisons with Psychotherapy and Placebo. Oder auch: Fisher, S; Greenberg R.P.: The curse of the placebo. Fanciful pursuit of a pure biological therapy. In: Fisher, S.; Greenberg R.P. (1997): From placebo to panacea: Putting psychiatric drugs to test.
[79] siehe Endnote 1
[80] Braunfels, Monika; Winter, Stefan (2014): Identität und mystische Erfahrung. Vortrag auf der DGPT Jahrestagung in Lindau. Darin wurde ein Komplex von unterstellt „fleischnahen“ Affekten aus heuristischen Gründen „Natalitätskomplex“ und die in ihm assoziierten einzeln bestimmbaren Affekte „Natalitätsaffekte“ genannt – um die enge Beziehung dieser klinisch zu beobachtenden affektiven Phänomene mit Geburt, Individuation und Inkarnation herauszuheben. Mit „Natalitätsaffekten“ ist nicht nur die von Otto Rank beschriebene geburtstraumatische Angst oder jene generell traumatische Angst, die Freud die automatische nannte, gemeint. Denn Angst ist ihrem Wesen nach ein zeitlich nachgeordnetes, ein sekundäres Phänomen. Sie ist eine Reaktion auf ein anderes, ihr zeitlich vorangehendes, im weitesten Sinne affektiv zu nennendes „Ereignis“ also. Angst setzt nach Otto Ranks eigener Überlegung Gedächtnis, also rudimentäre Ich-Bildung voraus. Angst und Ich-Bildung stehen in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis: Je mehr „Ich“, desto weniger Angst und umso mehr Furcht, je weniger „Ich“ desto mehr Angst mit Übergang in namenlose Panik bei Ich-Verlust. Entsprechend den „natürlichen“ Bewältigungskapazitäten angemessen dosierte Angst fördert Ich-Entwicklung, überdosierte führt ohne kompensatorische Einflüsse häufig durch wiederholte passagere Ich-Destruktion zu struktureller Störung. Hier geht es aber um die der vorausgehenden Ereignisse, um jene Ereignisse, die zuallererst „Gedächtnis machen“. Gemeint ist mit dem Begriff „Natalitätsaffekte“ ein Komplex abgründiger „Selbsterfahrungsqualitäten“, die als klinisch beobachtbare „Affektsymbole“ damit zwar wie die Angst Sekundärbildungen sind, aber nach Ansicht des Autors unmittelbarer auf „Gebürtlichkeit“ verweisen als die Angst, weil sie das dieser zeitlich vorangehende „Objekt“, besser: „Nobjekt“ (Thomas Macho) oder „Abjekt“ (Julia Kristeva) der Angst darstellen. Sie sind ich-loser als die Angst und treten später in der Psychopathologie typischerweise begleitet von einem „Ich-Untergang“ bzw. einer „Fragmentierung des Selbst“ auf.
[81] Freud, Sigmund (1921): „Massenpsychologie und Ich-Analyse“. GW Bd. S.: „Wenn eine andere Massenbindung an die Stelle der religiösen tritt, wie es jetzt der sozialistischen zu gelingen scheint, so wird sich dieselbe Intoleranz gegen die Außenstehenden ergeben wie im Zeitalter der Religionskämpfe, und wenn die Differenzen wissenschaftlicher Anschauung je eine ähnliche Bedeutung für die Massen gewinnen könnten, würde sich dasselbe Resultat auch für diese Motivierung wiederholen.“ (Unterstreichung SW)
[82] Um die Dimensionen dessen in der aktuellen Wirklichkeit erahnen zu können: Webb, Whitney (20221): A „Leap“ Towards Humatity’s Destruction. https://unlimitedhangout.com/2021/06/investigative-reports/a-leap-toward-humanitys-destruction/ :
[83] In: Sloterdijk, Peter (2007): Derrida ein Ägypter. Über das Problem der jüdischen Pyramide. Vorwort.
[84] Kouzminov, Alexander (2017): Information-Bioterrorism – A New Form of Global Manipulation. Current Concerns No. 3 2017
[85] Klarenberg, Kit (2024): Der Anti-Desinformationskrieg des britischen Geheimdienstes wird global. In: Free 21 Magazin Nr. 5 Jg. Oktober 2024, S.4 ff.
[86] https://verjuengungsforschung.de/
[87] hier natürlich, Wissenschaft und Kunst darin engführend, Gunther von Hagens‘ „Körperwelten“. Aber auch die ganzen Tatortreiniger und Pornostars, die überall auf den Bildschirmen in close ups das Fleisch offenlegen.
[88] DeLillo, Don (2018): Null K.
[89] Winter, Stefan (2005): Medikation bei Depression. Vom Dogma zur Aufklärung. In: Meissel, Theodor (Hrg.) (2005): Zur Einbürgerung des psychisch Kranken.
[90] Kirsch, Irving (1999): How exspectancies shape experience. American Psychological Association
[91] Kirsch Irving, Sapirstein George (1998): Listening to Prosac but hearing placebo: A meta-analysis of antidepressant medication. Prevention& Treatment 1998;1: article 2, www.journals.apa.org/prevention/volume1/pre0010002a.html
[92] Healy DT: The marketing of 5-Hydroxytryptamine: Depression or anxiety? British Journal of Psychiatry 1991; 158: 737-742
[93] Healy DT: The psychopharmacological era: notes toward a history. Journal of Psychopharmacology 1990;4: 152-167
[94] Merton, Robert K.: The thomas theorem and the matthew effect. Social Forces 1995;74 (2):379-424
[95] Moerman DE, Jonas WB: Deconstructing the placebo effect and finding the meaning response. Ann Intern Med 2002; 136: 471-476
[96] Walach H, Sadaghini, C: Plazebo und Plazeboeffekte. Eine Bestandsaufnahme. Psychother Psych Med 2002;52: 332-342
[97] Wiesemann C: Die heimliche Krankheit. Eine Geschichte des Suchtbegriffs. Stuttgart-Bad Cannstatt 2000 S.61ff.
[98] Susser M: Causal thinking in health science. Concepts and strategies of epidemiology. New York London 1973
[99] Burschel, Peter; Marx, Christoph (Eds.) (2011): Reinheit
[100] Heinsohn, Gunnar (1997): Der Erschaffung der Götter.
[101] Regina Wecker: Wie nationalsozialistisch ist die Eugenik? Internationale Debatten zur Geschichte der Eugenik im 20. Jahrhundert.Böhlau, Wien 2009.
[102] Ploppa, Hermann (2016): Hitlers amerikanische Lehrer. Die Eliten der USA als Geburtshelfer der Nazi-Bewegung
[103] Heinsohn, Gunnar; Knieper, Rolf; Steiger, Otto (1986): Menschenproduktion. Allg. Bevölkerungstheorie d. Neuzeit.
[104] Sachße, Christoph/Tennstedt, Florian (1987): Bettler, Gauner und Proleten.
[105] Braun, Christina von; Wulf, Christoph (Eds.) (2007): Mythen des Blutes.
[106] Ehret, Mathew (20212): How the Unthinkable Became Thinkable: Eric Lander, Julian Huxley and the Awakening of Sleeping Monsters. https://canadianpatriot.org/2021/05/25/how-the-unthinkable-became-thinkable-eric-lander-julian-huxley-and-the-awakening-of-sleeping-monsters/
[107] Heimerl, Theresia (2013): Ein Sack voll Blut und Schleim. In Herder Korrespondenz 67, S. 552–556.
[108] Häring, Norbert (2021): Biodigitale Konvergenz: Wie das Weltwirtschaftsforum die kanadische Regierung für seine Cyborg-Pläne einspannt. https://norberthaering.de/macht-kontrolle/biodigitale-konvergenz/ und https://horizons.service.canada.ca/en/2020/02/11/exploring-biodigital-convergence/index.shtml
[109] Jungk, Robert; Mundt, Josef (Hrsg.) (1963/66): Das umstrittene Experiment. Der Mensch. Elemente einer biologischen Revolution.
[110] Heinsohn, Gunnar; Knieper, Rolf; Steiger, Otto (1986): Menschenproduktion. Allg. Bevölkerungstheorie der Neuzeit.
[111] Foucault, Michel (2017): Sexualität und Wahrheit I. Der Wille zum Wissen. S. 60-61
[112] Heinsohn, Gunnar (2019): Söhne und Weltmacht. Terror im Aufstieg und Fall der Nationen. Hier die Tabelle zum weltweiten „Kriegsindex“.
[113] Nietzsche, Friedrich (), zit. n. Heinsohn (2019), S. „Erwägt man, wie explosionsbedürftig die Kraft junger Männer daliegt, so wundert man sich nicht, sie so unfein und so wenig wählerisch sich für diese oder jene Sache entscheiden zu sehen: Das, was sie reizt, ist der Anblick des Eifers, der um eine Sache ist, und gleichsam der Anblick der brennenden Lunte, - nicht die Sache selber. Die feineren Verführer verstehen sich deshalb darauf, ihnen die Explosion in Aussicht zu stellen und von der Begründung ihrer Sache abzusehen: mit Gründen gewinnt man diese Pulverfässer nicht!“
[114] Volker Demuth (2015): Politik des Fleisches. Gewalt und Literatur im 20. Jahrhundert. SWR2 Essay Sendung: Montag, 27. April 2015
[115] Dießenbacher, Hartmut (1998): Die Kriege der Zukunft. Kap. 1.-5.
[116] Demuth, Volker (2016): Fleisch. Versuch einer Carneologie. S. bis jetzt nicht wiedergefunden
[117] Girard, René (1998): Der Sündenbock.
[118] Weß, Ludger (1986): Hans Wilhelm Jürgens, ein Repräsentant bundesdeutscher Bevölkerungswissenschaft. In Heidrun Kaupen-Haas (Ed.): Der Griff nach der Bevölkerung. Aktualität und Kontinuität nazistischer Bevölkerungspolitik. Hierin die Darstellung der Habilitationsschrift des Bevölkerungswissenschaftlers Hans Wilhelm Jürgens „Asozialität als biologisches und sozialbiologisches Problem“ aus dem Jahr 1961.
[119] Macho, Thomas (2015): Schweine. Ein Portrait.
[120] Braun, Christina von (1985): Nicht-Ich. Leben Lüge Libido. „Frau Essen“ S. 381
[121] Demuth, Volker (2013): Fleisch. Warum wir ihm anhängen und weshalb wir von ihm abfallen. SWR 2 Essay, Sendung am 24.06.2013. Demuth schreibt: „Wenn die Nacht irgendwo in Soho, im piekfeinen Wheeler´s nach einem opulenten Essen mit Austern, Heilbutt und Langusten vorangeschritten war, oder wenn sie imColony, einer Künstlerbar, in der Morgendämmerung zu Ende ging, hob Francis Bacon sein Champagner- oder Whiskeyglas und toastete: „We are meat! Cheerio!“ Bacon faszinierte die Schönheit von Fleisch zeitlebens, weshalb er zur malerischen Stimulation nicht selten Metzgerläden oder Harrods Food Hall aufsuchte.“ und zitiert dort den Maler Francis Bacon: „Wenn man in eines dieser großen Lagerhäuser geht, und diese riesigen Hallen des Todes durchschreitet, kann man das Fleisch und die Fische und die Vögel und vieles andere sehen, das da tot daliegt. Und selbstverständlich wird man als Maler ständig daran erinnert, dass die Farbe von Fleisch tatsächlich sehr, sehr schön ist. (…) Nun, wir sind ja schließlich selbst Fleisch, potentielle Kadaver. Jedesmal, wenn ich einen Fleischerladen betrete, bin ich in Gedanken überrascht, dass nicht ich dort anstelle des Tieres hänge.“
[122] Zitate aus dem Denken der britischen „ruling class“ dazu: „Die neue Ethik wird das Leben als ein Privileg und eine Verantwortung betrachten, nicht als eine Art nächtliche Zuflucht für niedere Geister aus der Leere; und die Alternative im richtigen Verhalten zwischen einem vollen, schönen und effizienten Leben wird der Tod sein. Für eine Vielzahl verachtenswerter und dummer Kreaturen, angstgetrieben und hilflos und nutzlos, unglücklich oder hasserfüllt glücklich inmitten schmutziger Schande, schwach, hässlich, ineffizient, geboren aus zügellosen Begierden und vermehrend durch schiere Inkontinenz und Dummheit, werden die Männer der Neuen Republik wenig Mitleid und noch weniger Wohlwollen haben.“ H.G. Wells (1931): Anticipations. Oder: „At the moment, it is probable that the indirect effect of civilisation is dysgenic instead of eugenic ; and in any case it seems likely that the dead weight of genetic stupidity, physical weakness, mental instability, and disease-proneness, which already exist in the human species, will prove too great a burden for real progress to be achieved. Thus even though it is quite true that any radical eugenic policy will be for many years politically and psychologically impossible, it will be important for Unesco to see that the eugenic problem is examined with the greatest care, and that the public mind is informed of the issues at stake so that much that now is unthinkable may at least become thinkable.“ Huxley, Julian (1946): UNESCO Its Purpose and Its Philosophy. S.21
[123] Dinzelbacher, Peter (2006): Körper und Frömmigkeit in mittelalterlicher Mentalitätsgeschichte.
[124] Bataille, Georges (1994): Die Erotik S. 140
[125] Amery, Carl (1998): Hitler als Vorläufer. Auschwitz – der Beginn des 21. Jahrhunderts?